Worte finden. Über den 7. Oktober
Wie soll das gehen? Sprechen über den 7. Oktober? Über den Terror? Über Teile meiner eigenen Bubble, die das Pogrom der Hamas als Freiheitskampf verklärten?
Wer einen Funken Anstand im Leibe hat, hält doch mal inne und vor allem die Klappe!
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Die erste Geschichte, bei der ich dachte „so könnte es gelingen“, war die von den zwei jüdischen Freunden, die ab November regelmäßig auf die großen Palestina-Demos gingen.
Ich glaube, es war der Autor Hagai Dagan, der diese Geschichte das erste Mal erzählte,(*) und nach ihm viele andere, immer wieder und immer ein wenig anders, wie ein „urban myth“ geisterte sie durchs Netz um die Welt.
Allen Varianten gemeinsam waren das Unverständnis, das den beiden Freunden entgegenschlug, „was wollt ihr da, das ist nicht euer Ort“, und die Warnungen: „Macht das nicht, nicht jetzt, es ist gefährlich“.
Es handelte sich um aufgeladene, wütende und vor allem riesige Demos, über 300.000 Teilnehmende wurden etwa in London gezählt, an anderen Orten sogar noch mehr, „free Palestine“, brüllten nicht wenige von ihnen, und „Tod den Juden“.
Und die Freunde gingen da hin mit Kippa und sichtbarem Davidstern. Natürlich hatten alle Angst um sie.
Aber die beiden wollten unbedingt Solidarität bekunden. Dezidiert nicht mit den Mördern der Hamas, wohl aber mit der leidenden Zivilbevölkerung.
Und dann standen sie da, so stelle ich es mir vor, inmitten von zahllosen „from the river to the sea“-Transparenten und hielten ihr kleines Papp-Schild hoch, auf dem nur drei Worte Platz fanden: „Jews with Gaza“. Das fehlende Verb „to feel“ verstanden alle.
Ich stelle mir vor, wie die beiden Freunde beäugt wurden, umringt, fassungslos angestarrt, wie irgendjemand schließlich ein Foto von ihnen machte, weil er es nicht glauben konnte, und noch ein Foto, viele davon, und sie ins Netz stellte. Und nur zu gern möchte ich die Schilderungen von Gesprächen glauben, die auf diesen Demos begannen, und von Umarmungen.
Warum diese Geschichte gelingen konnte?
Es gibt nur einzigen Grund:
Weil da jemand sichtbar und aufrichtig Mitgefühl gezeigt hatte.
Weil jedes Leid absolut ist.
Und Mitgefühl verdient.
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Der Schriftsteller Ilja Trojanow hat es so formuliert: „Wer die Verbrechen der Hamas gutheißt oder die Grauen der israelischen Angriffswellen ohne Wenn und Aber rechtfertigt, hat an seiner Seele Schaden genommen.“
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Diese Geschichte entbindet übrigens nicht von Genauigkeit im Denken und Sprechen:
Genozidale Terrorakte wie der vom 7. Oktober 2023 sind nicht zu relativieren.
Sie sind zu verurteilen.
Es gibt einen Unterschied zwischen „Pogrom“, „Genozid“ und „Krieg“.
Auch völkerrechtlich.
„Ja, aber ...“
Nein!
Einmal ohne das ständige „ja, aber“.
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In Deutschland wird derzeit gern über den vermeintlichen Antisemitismus der muslimischen Communitys gesprochen, überhaupt werde durch die Migration der ganze Antisemitismus erst importiert.
Das können sich die alteingesessenen, einheimischen Antisemiten natürlich nicht gefallen lassen.
Vielleicht nur so viel: Die Sehnsucht, den Jüd:innen die Schuld für alles zu geben, ist bei uns immer noch sehr groß.
Und was machen wir?
Wir sehen dabei zu, wie das Asylrecht bis zur Unkenntlichkeit verschärft wird – ein Grundrecht, das es noch gar nicht so lange gibt, das erst aufgrund der Verbrechen der Nazis und der Fluchterfahrungen überhaupt in unsere Verfassung aufgenommen wurde.
Haben wir die Kraft, den Verfolgten Sicherheit, den Jüd:innen Heimat und den Opfern Menschenwürde zu garantieren.
Das ist keine Frage.
Sondern eine Verpflichtung.
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Aus: Lea Streisand, Michael Bittner, Heiko Werning (Hrsg.), Sind Antisemitisten anwesend? Satiren, Geschichten, und Cartoons gegen Judenhass, Berlin 2024 (Satyr-Verlag).
Ursprünglich habe ich diesen Text für den „Bundesordner“, den satirischen Jahresrückblick des Casinotheaters Winterthur, geschrieben und im Januar und Februar 2024 allabendlich vorgetragen. Für die Druckfassung wurde er leicht verändert.
(*) Hagai Dagan, Die Väter des Zionismus haben doch recht behalten, in: taz vom 18.11.2023