Depressionen müssen gar nicht teuer sein (Weihnachten 20)
Weihnachten und ich ... ganz ehrlich: Das wird nichts mehr.
Für andere mag es ja ein „frohes“ Fest sein, ich dagegen versinke in Agonie, wenn ich nur daran denke. Und das hat erstmal nichts mit diesem vermaledeiten Corona-Jahr zu tun. War bei mir immer schon so.
Gleich zu meinem allerersten Weihnachten (also dem ersten, an das ich mich erinnern kann) bekam ich von meinen Eltern einen Stoff-Teddy-Bären geschenkt. Ich weiß das noch genau: Dieser Teddy war flauschig und fast so groß wie ich. Allerdings weniger robust. Beim Spielen verlor er schnell ein Ohr und einen Arm, bald darauf beide Beine, die Knopfaugen hingen – sinnlos aus ihren Verankerungen gepuhlt – am Faden, die Holzwolle quoll hervor und binnen weniger Minuten war der Bär nicht mehr als solcher zu erkennen.
„Bravo“, sagten meine Eltern, „schon kaputt. Das hast du ja ganz toll hingekriegt.“
Ich war noch klein, aber ich erkannte an ihrem Tonfall, dass sie das gar nicht so meinten. Sie waren bitter enttäuscht und ich: traurig, verwirrt, schuldig.
Mein Opa kapierte, wie es um mich stand, und versuchte mich zu trösten:
„Junge, das mit dem Bär“, sagte er, „weißt du, ... der Bär war ein tapferer Kamerad. Er ist gefallen. In einem gerechten Krieg.“
Und dann setzten wir den Bären am zweiten Weihnachtsfeiertag im Blumenbeet der Oma – obwohl die Erde halb gefroren war – mit allen militärischen Ehren bei.
Um mich auf andere Gedanken zu bringen, gingen wir schließlich ins Kino. Auch daran erinnere ich mich noch gut. Der Opa, die Oma und ich. Ins Kino, zum ersten Mal ... in Bambi!
Und auf dem Nachhauseweg fuhr der Opa ein Reh tot.
Auch wenn das Leben danach normal weiterging – das Reh kam in den Kofferraum, zu Hause in die Tiefkühltruhe und im Januar gab es Rehbraten – seitdem steht Weihnachten für mich unter keinem hellen Stern.
„Was wünschst du dir denn dieses Jahr?“, fragt meine Mutter verlässlich meist schon im Spätssommer. „Was wünschst du dir denn zu Weihnachten, mein Sohn?“
„Ach Mutter. Bastel mir doch was. Darüber hast du dich doch früher angeblich auch gefreut.“
Wie gesagt: „O du fröhliche“ ... das wird nichts mehr bei mir.
*
Und dann kommt dieses Jahr die Politik daher und baut eine Drohkulisse ums Weihnachtsfest auf, dass es eine Art hat, verwendet es als schnödes Druckmittel in der Corona-Pandemie.
„Wir müssen uns an die Regeln halten, um Weihnachten zu retten!“
Hätte es je eines Beweises für die Absurdität meines Lebens bedurft, er wurde hiermit erbracht.
„Lieber jetzt einen längeren Lockdown“, sagte der Bayerische Ministerpräsident bereits Anfang November, „als eine komplette Ausgangsbeschränkung über Weihnachten.“
Was für eine Farce! Eine „Ausgangsbeschränkung über Weihnachten“ wünsche ich mir, seit ich denken kann! Ohnehin sind die Feiertage ohnehin nicht viel anderes als ein Lockdown: Die Geschäfte sind zu, die Museen auch, und die Familien schließen sich ein, um sich zu überfressen und heillos zu zerstreiten.
„Stille Nacht, heilige Nacht“. Schönen Dank auch.
In die Wirklichkeit übersetzt, bedeutet das: einmal im Jahr in die Provinz in sein Elternhaus zu fahren, nur um die Zeit zwischen den Jahren einsam und gefrustet in seinem alten Jugendzimmer abzusitzen, zu merken, dass man fett geworden ist, weil man mit dem Hintern im Rattanmobiliar steckenbleibt, und stundenlang an die grotesk holzvertäfelte Wand zu glotzen, an der seit Jahrzehnten ein vergilbter Wisch der Schule hängt, auf dem man nur noch entziffern kann: „... hat an den Bundesjugendspielen teilgenommen.“
Depressionen müssen gar nicht teuer sein.
Weihnachten als Zuckerle. Also was mich betrifft, möge man sich bitte mehr einfallen lassen als frühvergreiste, schwarze Pädagogik. Welche, wie zu erwarten war, auch keinerlei Folgen zeitigte. Aber befremdlich bleibt es doch.
Haben Sie manchmal auch so Angst, dass unsere nächste Bundeskanzlerin ein Mann sein könnte?
Eben besagter Bayer, wenn es blöd läuft? Der mit den strengen Regeln? Dem wir jetzt schon Verehrung und Denunziantentum en masse entgegenbringen?
„Ach, der Söder“, sagen die Leute, „der hat sich echt ganz schön gewandelt.“
(Wie beruhigend. Als Politiker ein Pfosten, aber er wandelt sich immer so schön.)
Was machen wir denn, wenn er’s wirklich wird? Und als frohe Botschaft erstmal überall Kreuze aufhängen lässt?
Das war seinerzeit Markus Söders erste Amtshandlung. Ist gar nicht so lange her. In allen Behörden und öffentlichen Gebäuden musste ein Kreuz an die Wand – in jede Amtsstube, jede Schule, in jedes Klassenzimmer ein Kreuz.
Heute weiß man: Ein Waschbecken wäre sinnvoller gewesen.
Hilft im Fall auch eher als beten. So ein Waschbecken.
Ist vom Denkprozess her aber anstrengender. Das war schon immer so. Wissen macht mehr Mühe als Glauben.
„Nur, wenn wir brav sind, kommt das Christkind.“
Ist klar. Weihnachten als Opium des Volkes.
Haben wir nicht schon genügend Freundinnen und Bekannte an Verschwörungstheorien verloren? Es ist so bitter, wenn Menschen, die man mag, auf einmal das Internet entdecken und krudes Zeug nachplappern.
Nur noch mal so als Bild: Hier das Waschbecken. Dort das Kreuz.
*
Aber wem steht es schon zu, sich über derlei Bewältigungsstrategien zu erheben? Wir Menschen scheinen uns nun mal nach simplen und stimmigen Erzählungen zu sehnen, die uns ohne größere eigene Denkleistung erklären, was uns widerfährt und wer eigentlich die Schuld daran trägt.
Ich bin selbst nicht ganz frei davon. Und auch bei mir ist es tatsächlich am ehesten die Religion, die verfängt. Wenn schon Verschwörungstheorie, dann das Original!
Schon im Frühjahr ertappte ich mich dabei, wie vor dem Einschlafen stumme Gebete gen Himmel schickte. Dabei bin ich ein Atheist vor dem Herrn.
Vielleicht ist „beten“ zu hoch gegriffen, aber „dealen“ trifft es wohl. Wie zuletzt als 5jähriger habe ich dem Schöpfer Händel vorgeschlagen: „Lieber Gott, wir wissen beide Bescheid: Ich glaube nicht an dich, du glaubst nicht an mich. Trotzdem – wenn du mich dieses eine Mal noch durchkommen lässt, ich versprech’s: Ich räume mein Zimmer auf, rufe regelmäßig meine Mutter an und werde nie wieder lügen.“
Die Religion ist das Erklärmodell, an das wir andocken können – die einfachste und älteste Geschichte der Welt: Die Menschheit hat sich versündigt, also schickt Gott eine Seuche. Corona als „Strafe des Herrn“. Das ist klassischer Bibelstoff, der selbstverständlich auch sofort erzählt wurde – am anschaulichsten vielleicht von den amerikanischen TV-Predigerinnen und -Predigern, die seit März dieses Jahres ohne Unterlass inbrünstig gegen Covid-19 anpredigen: „Go away, Virus! You’re the spawn of the devil! I’m sending you back to Hell, Satan!“
Wie clever der Teufel doch stets ist: Diesmal kommt er als Virus verkleidet direkt aus der Hölle zu uns auf die Erde. Und wo steckt man sich mit ihm an? Im Gottesdienst! Das kannst du nicht besser erfinden.
Ich wiederhole mich gern: Waschbecken.
Nachdenken statt Vorbeten. Das ist das Gebot der Stunde. Wissen Wollen statt glauben Müssen.
*
Der politische Wille, Weihnachten geregelt abzuhalten, ist nachvollziehbar. Aber muss es dazu derart überhöht werden? Das mutet so peinlich an. Nicht nur der Aufklärung und der Wissenschaft gegenüber. Und was ist eigenlich mit dem Zuckerfest oder Chanukka? Spielen Musliminnen und Juden keine Rolle bei der Pandemiebekämpfung?
Sogar in „Zeiten wie diesen“ sieht man den feierlich gechmückten Einkaufsstraßen und grell blinkenden Fußgängerzonen an, was die überwiegende Mehrheit der Deutschen wirklich mit dem „Christfest“ verbindet. Und es ist ermüdend, der Konsumkritik immer wieder das Wort reden zu müssen.
So sieht es aus: Theater, Kinos und Museen mögen schnell geschlossen sein. Der Handel aber folgt erst mit weitem Abstand. Die Kirchen bleiben gleich offen.
Weihnachten und ich ... das wird nichts mehr.
Aber eine schöne und frohe Zeit wünsche ich uns allen trotzdem.
Und von Herzen: Solidarität. Rücksicht. Abstand.
Denn damit ist – und war – man immer gut beraten.
Und abschließend, bitte vergessen Sie das nicht:
Waschbecken.
© 2020. zuerst veröffentlicht in Frankfurter Rundschau, 19./20.12.2020 sowie chilli:freiburg:stadtmagazin, 23.12.2020.