weißt du, wieviel Sternlein stehen? ein dialog

Kinderzimmer, abends. Der Vater versucht, die Tochter (10) ins Bett zu bringen. Das Problem: Er singt nicht gern. Und sie ist naturwissenschaftlich interessiert.

Tochter: „Singst du mir ein Schlaflied?“

Vater: „Muss ich?“

Tochter: „Natürlich musst du nicht, aber es entspräche den Gepflogenheiten, findest du nicht?“

Vater: „Was weiß ich denn?“

Tochter: „Wenig – wenn du mich fragst.“

Vater: „Also gut. [singt] Weißt du, wie viel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt?“

Tochter: „Ne jetzt, oder?“

Vater: „Weißt du, wie viel Wolken gehen weithin über alle Welt?“

Tochter: „Wieso fragst du mich das?“

Vater: „Was fragen? Ich dachte, du willst ein Schlaflied.“

Tochter: „Will ich ja auch. Aber die Fragen sind Panne.“

Vater: „Welche Fragen?“

Tochter: „Na, die in dem Lied, nach der Anzahl der Sterne und Wolken.“

Vater: „Das ist doch metaphorisch gemeint.“

Tochter: „Für was soll das denn bitte eine Metapher sein?“

Vater: „Na für, äh, die Unendlichkeit.“

Tochter: „Das ist doch Quatsch, Papa. Die Anzahl der Wolken ist prinzipiell variabel, was aber nicht heißt, dass sie unendlich wäre. Und Sterne sind sogar relativ exakt quantifizierbar.“

Vater: „Aha.“

Tochter: „Es sind etwa 70 Trilliarden. Kannst du dir das vorstellen?“

Vater: „Nein.“

Tochter: „7 mal 10 hoch 22 Sterne. Eine Sieben mit 22 Nullen.“

Vater: „Ja. Eine große Zahl.“

Tochter: „Die natürlich nur dann stimmt, wenn mit dem ’blauen Himmelszelt’ das Universum gemeint ist, bei unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße, sind es viel weniger.“

Vater: „Ich hätte dir niemals dieses Astrologiebuch geben dürfen.“

Tochter: „Astrophysik!“

Vater: „Soll ich weitersingen?“

Tochter: „Bitte.“

Vater: „Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm ja auch keines fehlet an der ganzen großen Zahl ...“

Tochter: „Merkst du selbst, oder?“

Vater: „Was ist denn jetzt schon wieder?“

Tochter: „Hast du vorhin nicht zugehört?“

Vater: „Doch. Eine Sieben mit 22 Nullen.“

Tochter: „Eben. Gott braucht die Sterne nicht zu zählen. Er kann das nachlesen, Papa. Und von Leuten, die Wolken zählen, sollte man sich fern halten. Das sind in der Regel esoterische Spinner. Oder Querdenker.“

Vater: „Anderes Lied?“

Tochter: „Anderes Lied.“

Vater: „Lalelu, nur der Mann im Mond schaut zu ...“

Tochter: „Nein!“

Vater: „Zu wenig feministisch?“

Tochter: „Das auch. Aber vor allem ist auf dem Mond keiner, der schauen könnte. Der Letzte war Eugene Cernan, 1972. Seitdem ist niemand mehr dort gewesen.“

Vater: „Also kein Lalelu?“

Tochter: „Weißt du, was Cernan auf dem Mond zurückgelassen hat?“

Vater: „Keine Ahnung. Müll? Eine Flagge?“

Tochter: „Nein, das war Armstrong. Cernan hinterließ die Initialen seiner Tochter im Mondstaub. – Nur mal so als Anregung.“

Vater:[singt] Guten Abend, gute Nacht! Mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt, schlupf unter die Deck ...“

Tochter: „O.k. Weiter.“

Vater: „Echt jetzt?“

Tochter: „Ich finde es zwar etwas bizarr, Kinder vor dem Zudecken mit Rosen und Nelken zu garnieren, aber bitte, wenn du meinst.“

Vater: „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.“

Tochter: „Und wenn Gott nicht will?“

Vater: „Dann ... weckt dich die Mama.“

Tochter: „Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.“


© 2021. zuerst erschienen unter dem Titel "Singschule" in: Frankfurter Rundschau, 8./9.5. 2021; hier das Faksimile.