Was sollen die Leute denken (Kap. I, Auszug)

Draußen knospt es.
Das lässt sich nicht länger ignorieren. Wie es draußen knospt. Überall blüht und sprießt es. Oft mit Vorsatz.
Misslaunig mag ich schon zum Frühstück erscheinen, mit einem Schild um den Hals. Auf das Schild habe ich geschrieben: „NEIN! Ich gehe nicht mit dir ins Gartencenter!“
Ich weiß, dass das nichts helfen wird, es im Gegenteil alles schlimmer macht. Noch schlimmer als es ohnehin schon ist.
Aber es bleibt dabei: Ich geh nicht mit. Ins Gartencenter. Pärchenscheiße! Wieder Grünzeug kaufen, das dann letztlich doch nur verwelkt. Und traurig macht.
Gegen Traurigkeit hilft ein Gartencenter nämlich nicht, hörst du, dieser Tempel der Vergänglichkeit. Vergänglichkeit habe ich zu Hause genug, schau mich doch an, und dich ... und deine Cremes.
Sag ich natürlich nicht. Nichts sage ich. Es ist auch so schon jämmerlich genug.
Was machen Gartencenter eigentlich im Winter? Sind die da verpuppte Baumärkte, die im Frühling schlüpfen?
Nein, Gartencenter haben ganzjährig geöffnet, rund um die Uhr, weil immer jemand einen Blumentopf kaufen will und einen Blumentopfuntersetzer und einen Blumentopfuntersetzeruntersatz. Oder Rankpflanzen, mit Kletterhilfen für Rankpflanzen. Und Rasen natürlich. „Lass uns mal Rasen kaufen, Schatz.“ Rollrasen, grün wäre im Angebot. Und Rasenlüfterschuhe, die sind praktisch. Oder gleich Crocs.
„Die sind ja so leicht, diese Crocs.“
Und hässlich!
Ich will nicht! Die Welt ist ein Gartencenter, hörst du. Wenn du mal drin bist, findest du nie wieder raus. Du liegst apathisch in einem Bett aus Zierpflanzensprays und um dich herum trampeln Leute in Crocs vorbei und sind normal. Und glücklich. Die Welt ist ein Gartencenter. Da kannst du noch so viel ins Kissen heulen, dein Kissen ist ein Sack Tulpenzwiebeln. Und einmal im Jahr kommt einer zur Inventur vorbei und scannt dich ab.
Draußen blüht es dir. „Nein, ich gehe nicht mit ins Gartencenter!“ Sage ich nicht.
Auch zum Kind sage ich nichts. Dabei sollte ich. Sollte dem Kind sagen, dass es keinen Hund kriegt. Weil ich derjenige bin, der das nicht will.
„Es ist okay, wenn du das nicht willst. Aber dann sagst du’s auch dem Kind.“
Egal, was du sagst. Ein Kind, das sich einen Hund wünscht, und dem du sagst, es kriegt keinen, hasst dich.
„Hast du’s dem Kind schon gesagt?“
Nein. Ich kann nicht. Ich will nicht. Ich wollte ... schon das Kind nicht. Damals.
Ich hab damals nachgegeben, diesmal bist du dran. Bitte. Keinen weiteren gemeinsamen Pflegefall mehr.
Sag ich natürlich nicht. Nichts sage ich.
Auch dem Kind nicht. Was soll ich auch sagen?
„Hund gibt’s keinen, Kind! Such dir ein Hobby.“
„Ich hasse dich!“
Wie schaffen das die anderen? Die Normal-Glücklichen? Die Leute mit den Crocs?
Mit links schaffen die das: „Ein für alle Mal, Kind“, sagen die, „ein Hund kommt nicht in die Tüte. Ein Hund, bei deinen Schulnoten! Bei dir piept’s wohl. Werd erst mal besser in Mathe. Ein Hund! Den muss man pflegen und hegen und Gassi gehen ... und gießen. Und wer macht den Käfig sauber? Hm? Wer mistet den Stall aus? Hm? Hm? Ich weiß doch, wie’s läuft, mein Kind, eine Woche interessierst du dich für den Hund, eine Woche. Und dann ist wieder nur Gameboy angesagt. Und Computer. Davon werden deine Noten auch nicht besser. Ein Hund! Nichts da. An mir bleibt das alles doch wieder hängen, an mir!“
Und dann kriegt das normal-glückliche Kind doch noch mit Hängen und Würgen eine Gymnasialempfehlung, und zum Dank dafür - Überraschung: einen Hund. Und das Kind nennt diesen Hund zur Strafe dann „Lucky“ oder „Kira“ oder was sich Kinder sonst noch für blöde Namen ausdenken.
Gymnasialempfehlung ... Das wäre ein guter Hundename. Und ehrlich. Damit der Hund einen immer daran erinnert, warum er da ist.
„Gymnasialempfehlung, kommst du her! Mach Sitz, Gymnasialempfehlung!“
Kann man auch nicht so leicht abkürzen. Muss man aber. Hundenamen müssen zweisilbig sein. Zwei Silben. Sonst hören sie nicht. Die Hunde. Und hauen ab. Oder beißen ein fremdes Kind. Und müssen eingeschläfert werden.
„Zwei Silben, hörst du, Gymnasialempfehlung? Sonst ...“
Also „Gymmi“. Oder „Empfi“.
„Ja komm her, Empfi. Du bist ein ganz ein Braver, Empfi, ein ganz braver Empfi bist du.“
Braver Hund. / Braves Kind. / Gymnasialempfehlung. / Glücklich.
Was soll ich denn sagen? Wenn’s draußen dermaßen knospt?
Kind, sollte ich sagen, so ein Hund ... der stirbt.
Und der stirbt nicht irgendwann, der Hund, sondern ...
Ein Menschenjahr sind sieben Hundejahre, verstehst du das, Kind? In zwei Jahren ist der Hund schon weit mehr als doppelt so alt wie du. Und dann geht’s rasend schnell. Hattet ihr die 7er-Reihe schon in der Schule? Komm, sag mal die 7er-Reihe auf. Komm, 7, 14, ...
Das kann man ausrechnen. In der Pubertät ist es so weit. In der Blüte deiner Pubertät, Kind. Wenn du dich vor den Zug werfen willst, weil dir wieder ein Mädchen das Herz gebrochen hat. Und glaub mir, Mädchen brechen dir das Herz. Immer und immer wieder. Und diesmal ist es besonders schlimm. Diesmal ist es eine Vanessa. Und du hast alles gegeben, mein Kind. All deine Liebe hast du in die Waagschale geworfen, hast alles riskiert, dein Herz geöffnet - und Vanessa bricht es. Bricht es einfach entzwei.
Per SMS, wahrscheinlich: „Hb. keine Lust mehr“, steht in der SMS. „Lass uns Fr. bleiben. Sorry. Lovl. greetz, Van.“
Und dann kannst du nicht mehr. Willst nicht mehr. Aus. Ende. Du rennst zum Bahnhof, stehst am Gleis, spürst den Luftzug der Bahn. Endlich hören die Schmerzen auf! Endlich ... Aber irgendwas in dir hält dich zurück. Und das ist das Leben, Kind. An einem Faden, an einem seidenen Faden hält dich das Leben mit aller Kraft zurück.
Und dann ... stirbt dein Hund. Einfach so. Aus Altersschwäche. Und das schaffst du dann wirklich nicht mehr, das ist der berühmte Tropfen, der das Fass ... Da reißt der seidene Faden dann ... das hält kein Leben aus.
Kind, ich will dich doch nur schützen. Bitte, such dir etwas Langlebigeres. Eine Schildkröte. Einen getrockneten Pilz. Ein Stück Blech.
Aber keinen Hund. Such dir ein Hobby.
Und jetzt geh raus spielen.
Aber sei vorsichtig.
Draußen knospt es.

© 2011 dtv / jess jochimsen

Buch bestellen