Was die Deutschen von den Schweizern lernen könnten (aber nie zugeben würden). Ein Essay

Vielen Dank für die Einladung, etwas über die Schweiz schreiben zu dürfen. Als Deutscher. Genauer: Als Deutscher über Euch Schweizer schreiben zu dürfen. Über die Frage, wovon – wie es gerne heißt – „wir“ uns von „euch“ eine „Scheibe abschneiden“ könnten.
„Mein“ Bezug zu „Euch“ begann schwierig, weil der erste Schweizer, den ich kennenlernte, Wilhelm Tell war. Ich hielt ihn für einen Italiener und mochte ihn nicht. Tell war der Eichel Ober in einem Südtiroler „Helden“-Kartenspiel, mit dem ich als Kind das „Watten“ lernte. (Die anderen Ober waren übrigens Andreas Hofer, Siegfried der Drachentöter und Friedrich Hecker. Mit „Deutsche Helden“ waren sie allesamt untertitelt und die Kartenfirma machte da wenig Federlesens ob nun Tiroler Freiheitskämpfer, badischer Revolutionär, schweizer Tyrannenmörder oder germanische Sagengestalt. „Alles Südtiroler“, sagte meine Oma. „Italiener“, verbesserte meine Mutter.)
Was mich als Kind von „Guglielmo Tell“ so abstieß, war die Sache mit dem zweiten Pfeil beim Apfelschuss, die einkalkulierte Möglichkeit, den eigenen Sohn zu töten. Vielleicht waren es die regelmäßig schlechten Ergebnisse meines Vaters beim Schützenfest, dass sich in mir eine weniger durchdachte, als dafür emotional umso tiefer sitzende Gewissheit breit machte: ein wirklicher Held, ein liebender Vater, musste das anders lösen! Nichts zu tun haben wollte ich mit dem Tell, unglücklich das Land, das solche Helden hat. Ziemlich lange also mied ich Italien.
Und wandte mich der Schweiz zu. Unmerklich. Literarisch. Lernend.
Die Engländer übersetzen „lernen, sich eine Scheibe abschneiden“ mit „to take a page from somebodys book“ und genau so ist es gewesen: Es waren die Kindergeschichten Peter Bichsels, mit denen ich aufwuchs, es waren Frisch und Dürrenmatt, die mich den Deutschunterricht ertragen ließen, es war Gerhard Meier, den ich im Handke-Seminar las und Peter von Matt, der mir Literatur überhaupt erst erklärte. Robert Walser wühlte mich auf, lange bevor Kafka es tat. Jürg Federspiel war über Jahre mein Favorit unter den Suhrkamp-Autoren. Natürlich las ich den „Törleß“ und den „Schüler Gerber“, aber der Bildungsroman, der mich wirklich peitschte, war „Schilten“ von Hermann Burger. Wie ein Kind freue ich mich, wenn ein neuer Roman von Alex Capus erscheint. Mein erklärtes Lieblingsbuch des letzten Jahres handelt von mutterlosem Sprechen und stammt von Monica Cantieni, das des vorletzten Jahres erzählt von großväterlichem Spazierengehen und ist von Christoph Simon. Und wenn mich jemand fragt, wen ich für den „spannendsten, jungen Gegenwartsschriftsteller“ halte, antworte ich seit langem zuverlässig: Michael Stauffer. Bei allen Genannten fühle ich mich immer zuhause, empfinde ich stets große Freude und, das gebe ich gerne zu, lerne ich unentwegt dazu. Und: Alle sind Schweizer. Zufall, sicherlich, aber in seiner Summe doch auffallend. Zumindest für mich. Viele meiner literarischen Helden kommen aus der Schweiz.
„Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“ Ich weiß, Herr Brecht, aber die Literatur ist kein Land (wobei es seinerzeit von allen Ländern einzig die Schweiz war, die dem Dramatiker ein wahres Gastrecht gewährte).
Nicht, dass man daraus großartig etwas lernen könnte. So von Volk zu Volk.
Ich bin den Schweizern ein guter Deutscher: Ich komme regelmäßig zum Arbeiten in die Schweiz, gebe meinen Lohn fast immer noch am selben Abend in der Schweiz aus und reise dann wieder ab.
Aber, und das lässt diesen Versuch vielleicht noch gelingen: Ich war in den Büchern, auf den Bühnen und in den Betten Eures Landes immer willkommen, ich durfte Freund und Gast sein, als Reisender, Lesender, Liebender. Vielleicht ist es genau dieses kleine, unscheinbare Wort mit seinem wunderbaren und großen Sinn? „Gastfreundschaft“.
Manchmal fällt mir auf: In Deutschland wird man „angehalten“ oder „gebeten“, etwas zu tun, in der Schweiz wird man „eingeladen“. Und manchmal denke ich, ja, „Gastfreundschaft“ (und zwar nicht die aufgesetzte, sondern die empfundene), das könnten die Deutschen tatsächlich von den Schweizern lernen (zugeben würde ich das freilich nie.)

© 2012. zuerst erschienen in: basler Zeitung

Bücher von Jess Jochimsen


P.S. Müsste ich „die“ Schweiz allerdings illustrieren, würde ich es mit einer Fotografie tun, die ich am Ortseingang von Olten gemacht habe: