Vom Verlieren der Fassung. Über Annamateur

Meine Damen und Herren, der Bayerische Kabarettpreis 2010 in der Sparte Musik geht aus besten Gründen und völlig zurecht an die Dresdner Künstlerin Anna Maria Scholz alias „Annamateur“.
Es ehrt mich sehr, ihr die Laudatio halten zu dürfen und mein Plan war, zu Beginn das ein oder andere Pressezitat vorzulesen, um zu verdeutlichen, wer die Preisträgerin ist, was sie so treibt auf den Brettern und wie das gesehen wird.
Aber manchmal wird man beim Durchforsten des deutschen Blätterwaldes doch – sagen wir mal – eines anderen belehrt.
Ich zitiere im Folgenden – in aller gebotenen Knappheit – die Vorarlberger Nachrichten, die Mainzer Allgemeine, die Bergische Morgenpost, den Berliner Tagesspiegel, die Pressestelle des Bayerischen Rundfunks, die Badische Zeitung und den Kölner Stadtanzeiger.
Also... Anna Maria Scholz ist: „eine Diva“, „eine echte Diva“, „eine falsche Diva“, „eine Ausnahme-Diva“, „eine schwergewichtige Diva“, „eine originelle Diva“, „eine Anti-Diva“.
Na dann.
Sie ist „ein musikalisches Ausnahmetalent“, „ein Naturtalent“, „ein Talent“, „ein Wahnsinnstalent“, „ein Multitalent“ und – Überraschung – „extrem talentiert“.
Wissen wir das auch.
Desweiteren: „Ein Vulkan“, „ein Wunder“, „ein Naturereignis“, „der reine Wahnsinn“, „der helle Wahnsinn“, „einfach nur der Wahnsinn“, „der totale Wahnsinn“.
Hallo? Jemand zu Hause?
Anna Maria Scholz ist „ein schmollendes Dickerchen“, „eine Sockenfrau mit Wuschelhaaren“, sag mal, geht’s noch? Sie ist „Kindfrau, Schlampe, Kobold“.
Entschuldigung! Ist das journalistische Arbeitsverweigerung, beleidigend oder einfach nur frech, wenn man lesen muss:
„Sie gurrt wie ein Täubchen, säuselt wie der Wind, singt wie eine Nachtigall und fegt wie ein Orkan durchs Parkett.“
Mei lieba Herr Stadtanzeiger!
Bestenfalls erklärt sich solche Presse dadurch, dass die Kunst von Annamateur im Wortsinne schwer zu fassen ist, aber erstens ist das kein Grund für unterlassene Schreibleistung und zweitens ist „Fassungslosigkeit“ nicht die schlechteste Rezeptionshaltung.
Ich habe Anna Maria Scholz in den letzten Jahren mehrfach auf der Bühne erlebt und war – fassungslos.
Wie schön ist das denn? Seine Fassung zu verlieren aufgrund eines Bühnengeschehens! Vergeblich um Fassung zu ringen angesichts des unglaublichen Mutes, den man auf der Bühne sieht, angesichts der überbordenen Spielfreude, der anarchistischen Komik und nicht zuletzt angesichts der musikalischen Perfektion  - die man übrigens weniger mit Talent erklärt, als vielmehr mit jahrelanger Ausbildung, mit kompromissloser Hingabe und mit dem absoluten Ernstnehmen der kulturellen Weltsprache „Musik“.
Ich war fassungslos angesichts dessen, was diese Kunst mit mir - und dem Publikum - gemacht hat.
Ich habe gejubelt, geweint, ich habe mich selbst- und fremdgeschämt wie schon lange nicht mehr, ich lag auf dem Boden vor Lachen, ich war einfach nur glücklich, dann wieder traurig...
Es ist selten und einfach nur schön, wenn Kunst die ganze Palette der Gefühlswelt von Freude bis Schmerz, von Scham bis Beglückung derart genial hervorzubringen vermag.
Man mag das „Naturereignis“ nennen oder „Wunder“, in Wirklichkeit sind das wohl eher Können, Wagemut, Vertrauen in das, was man macht, und die nötige Rücksichtslosigkeit sich selbst und dem Publikum gegenüber.
Und dass das einhergeht mit intelligenten Texten und einer Improvisationskunst, die nicht einfach behauptet ist, sondern wahrhaftig, kann man ruhig auch mal erwähnen.
Überhaupt wäre da noch einiges, das man erwähnen könnte, und hätte ich mehr Zeit, würde ich das auch tun.
Hätte ich mehr Zeit, ich würde über Annamateurs aktuelles Bühnenprogramm sprechen; es trägt den wunderbaren Titel „Bandaufstellung nach B. Hellinger“. Bert Hellingers Therapieform der systemischen Aufstellung, die in den letzten 20 Jahren als „Familienaufstellung“ vor allem bei den Altlinken und im Bionade-Biedermeier in Mode kam, die mittlerweile von großen Firmen als „Unternehmensaufstellung“ pervertiert wird – diese Therapie-Mode auf die Bühne zu bringen und sie dort nicht zu karikieren, sondern ernstzunehmen, zu reflektieren und in all ihrer Fragwürdigkeit „vorzuführen“, und dann auch noch derart saukomisch – das ist erstens nie dagewesen, zweitens ein echtes Wagnis und drittens große Kunst. Schauen Sie sich dieses Programm bitte an – Sie werden ein anderer Mensch!
Hätte ich mehr Zeit, ich würde über Annamateurs grandiose Musiker sprechen, die „Aussensaiter“ an Cello und Gitarre, ohne die nichts geht. Auch ihnen gebührt dieser Preis: Stefan Braun und Christoph Schenker am Cello sowie Reentko Dirks und Samuel Halsscheidt an der Gitarre. Chapeau!
Hätte ich mehr Zeit, ich würde über die Anna Maria Scholz sprechen, die ich abseits der Bühne erlebt habe, einen herzlichen, loyalen und offenen Menschen, der wie kein Zweiter die Musik liebt und lebt, einen Menschen, der bis aufs Mark kollegial ist, und last not least einen Menschen, der sich nichts gefallen lässt. Nicht von den Redakteuren diverser Kabarettsendungen und nicht von den üblichen Theater- und Medienheinzelmännern, die eh alles besserwissen und immer dann zur Stelle sind, wenn es gilt, auf einen Erfolgszug aufzuspringen.
Mit Vorschriften sollte man dieser freischaffenden Künstlerin besser nicht kommen, denn sie hat sich nach langen Jahren in Theater, Varieté und Musical sehr bewusst für diese „freie“ Laufbahn entschieden. Und ist immer bereit, dafür zu kämpfen.
Am besten beweist das mein Lieblingszitat, mit dem ich schön langsam zum Schluss komme.
Nach einer Talkshow im NDR hieß es in der Presse: „Die als Komikerin geladene Sängerin Anna Maria Scholz präsentierte sich völlig humorlos.“
Ja, Freunde, sie kam in der naiven Annahme, hier würde geredet – und seien Sie versichert, Anna würde etwas von sich preisgeben –, wenn ihr aber jemand braucht wird, der auf Knopfdruck Witze abliefern soll, solltet ihr besser jemand anderen einladen.
Anna Maria Scholz ist keine Komikerin – sie ist komisch, aber nicht ausschließlich und auch nur dann, wenn sie das will.
Auf der Bühne, die ihr selbst gewähltes Zuhause ist, will sie - und wir werden Zeuge ihrer ureigenen Liedkunst, ihrer einzigartigen Cover-Versionen, ihrer Lust auf Lachen-Machen und ihres unbändigen Willen, neues auszuprobieren.
In einem Interview hat „das Zirkuskind“ Anna Maria Scholz einmal gesagt: „Dieses Ausprobieren möchte ich mir nicht nehmen lassen – egal, ob die Leute das verstehen und aushalten.“
Wenn dieser Preis nur ein kleines Stück dazu beiträgt, auf diesem Weg zu beharren, ist alles gut. Denn dann, meine Damen und Herren, erleben wir Unterhaltung. Unterhaltung im besten Sinn und stets mit der Betonung auf „Haltung“.
Der Bayerische Kabarettpreis 2010 in der Sparte Musik geht an „Annamateur“ alias Anna Maria Scholz.

© 2010 jess jochimsen. laudatio gehalten anläßlich der verleihung des bayerischen kabarettpreises am 26.7. 2010 im „kabarett im hofgarten“ in aschaffenburg (ausgestrahlt am 30.7. 2011 im bayerischen fernsehen). please join: Annamateur

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