Vom Streiten der Schrift

Der Schweizer Satiriker Andreas Thiel hat Ende 2014 in der WELTWOCHE eine Streitschrift mit dem Titel „Der Schatten des Ostens“ publiziert, in der er dezidiert und provokant den Koran kritisierte. Es folgte eine hitzige Mediendebatte, in der die Beschäftigung mit dem Text (und seinem Genre) ins Hintertreffen geriet.

Drei Einwände von Jess Jochimsen

Andreas Thiel hat mit „Der Schatten des Ostens“ das Feld der Satire verlassen und einen gänzlich unsatirischen, letztlich politischen Text geschrieben, eine „Streitschrift“, wie er seine Ausführungen selbst nennt. Per definitionem geht es der Streitschrift (dem „Pamphlet“, der „verunglimpfenden Flugschrift“) „nicht um sachliche Argumentation, sondern um engagierte Parteinahme für eine Sache, um Ablehnung und Kritik.“ Eine Streitschrift „provoziert, übertreibt, spitzt zu und beleidigt.“
Gemessen an diesen Kriterien und dem medialen Echo darauf (zu dem auch ein m. E. von allen daran Beteiligten völlig verunglückter Talkshow-Auftritt beitrug) könnte man zu dem Schluss gelangen, Andreas Thiel habe seine Sache gut gemacht. Ich bin anderer Ansicht.

I) Von der Wirkung einer Streitschrift
Eine Streitschrift ist immer auf größtmögliche öffentliche Wirkung bedacht; das war sie bereits bei Lessing im 18. Jahrhundert oder bei Heine im 19. Jahrhundert – und das ist sie selbstverständlich auch heute. Aber auch und gerade 2014 muss man fragen, inwieweit öffentliche Aufmerksamkeit, Erregung und medialer Rummel den Aussagen der Schrift geschuldet sind, oder ob es „the media“ sind, die „the message“ werden. Obgleich ich mir als Deutscher nur begrenzten Einblick in schweizerische Mediendebatten erlaube, glaube ich sagen zu dürfen, dass Andreas Thiels Auftritt in der Talkshow „Schawinski“ weit mehr zur Skandalisierung beigetragen hat als Thiels Text in der „Weltwoche“. Weiter glaube ich zu erkennen, dass es in Zeitschriftentext und Fernsehtalkshow zwar um einander bedingende, aber letztlich grundverschiedene Dinge ging, dass es sich strenggenommen um zwei Skandale handelte, welche einander überlagerten. Das Skandalon eines mißglückten Gesprächs (das die Fragen nach Gesprächskultur und des Umgangs miteinander berührt) stellte das Skandalon einer Religionskritik (in welcher der Koran verhandelt wird) in den Schatten. Die Tatsache, dass der „mediale Aufschrei“ so viel leiser ist, wenn ein Satiriker einen provokanten Text schreibt, als wenn er einen Talkmaster provoziert, so dass dieser völlig aus der Rolle fällt, ist medientheoretisch erklärbar, aber auch schade. Denn was als einendes Moment stehenbleibt, auf was beide Debatten heruntergebrochen werden, ist: Provokation (und leider auf nichts weiter). Die Lesarten werden simpel: „Endlich sagt das mal einer!“ „Endlich hat’s dem mal einer gezeigt!“ usf.
Wenn aber nurmehr „Provokation“ übrigbleibt, wird man auch untersuchen müssen, inwieweit diese bereits in Thiels Streitschrift angelegt war, ob sie thesenhaftes Hauptmovens des Textes war (und damit einfach herauszuschälen und zu vereinnahmen) oder ein Stilmittel neben vielen anderen, wie es sein sollte.

II) Von der Geschichte der Streitschrift
Auch 2014 muss sich eine theologische Streitschrift an anderen aus der Geschichte dieses Genres messen lassen. Eine rein textimmanente Kritik an einem religiösen Werk, wie sie Andreas Thiel für den Koran vorgelegt hat, unterschlägt über hundert Jahre wissenschaftlicher Arbeit und reichte beispielsweise schon Lessing in seinen berühmten Pamphleten „Anti-Goeze“ (in denen er sich in etlichen Zeitschriftenartikeln durchaus erbittert und Tabu-brechend an der Luther-Bibel rieb und provokant die „Theologie der Offenbarung“ zugunsten eines vom Zwang christlicher Lehrsätze befreiten Individuums ablehnte) nicht aus. Natürlich hat auch Lessing seine Texte mit harschen Bibelzitaten gespickt, aber er ließ nicht eine der Fragen nach Interpretation, Auslegung, Entstehungsgeschichte, zeitgenössischen historischen und politischen Kontext, selbst die nach Psychologie und Soziologie der Macht, außen vor. Lessing legte seine Denkweise offen, arbeite fremd- und selbstreferentiell und dekonstruierte so „im Sinne der Aufklärung“ Deutungshoheiten.
Dem Einwand, dass viele dazu neigten, „grundlegende Kritik“ am Koran mit dem „Hinweis auf Auslegung und Übersetzung“ abzuwinken, begegnet Thiel textimmanent: Er habe den Koran gelesen, darin stünde doch alles und er frage sich, wo „dieser Übersetzungsfehler oder ein Interpretationsspielraum zu suchen sein soll“. (sic!) Das ist zu wenig. Denn der Koran wird ja in einer Tour interpretiert und ausgelegt, es wird Politik mit ihm gemacht, Machtansprüche werden durch ihn begründet, schreckliche Taten werden in seinem Namen begangen. Diese Mechanismen nicht einmal zu erwähnen, sondern ausschließlich und hermeneutisch im Koran zu verankern, stuft eine Streitschrift zur Fleißarbeit herab, verunmöglicht den reformistischen Charakter der Aufklärung und ist vor allem provokant. „Den Islam reformieren“, so schlussfolgert Thiel denn auch, „hiesse den Koran verwerfen.“ Das ist starker Tobak und in zweifacher Hinsicht fatal: Zum einen beraubt es Thiels Schrift sämtlicher Facetten, die das aufklärerische Denken neben der Textimmanenz zu bieten hat. Textimmanenz kann immer nur ein Baustein neben anderen sein, sonst verkommt sie zur „reinen Lehre“, anders gesprochen: Textimmanenz ist die „strenge Sprache der Theologen“, nicht die der Religionskritik. Zum anderen ist eine rein textimmanente Kritik am Koran relativ einfach als pauschale Islamkritik lesbar und wird, wenn man das will, auch so aufgefasst. Thiels Text ist beileibe nicht der erste seiner Art, er stellt sich – durch die Wahl seines formalen Verfahrens – in eine Reihe mit denen von beispielsweise Thilo Sarrazin oder Akif Pirinçci. Und nun ist es kein neues Phänomen, dass selbstverständlich auch mit Islamkritiken (zumeist rechtsextreme) Politik gemacht wird. Es ist zu bedauern, dass Andreas Thiel dieser Lesart in seinem Text keinen deutlichen Riegel vorgeschoben hat.
Eine wirklich ernst zu nehmende Streitschrift tut dies nämlich. Lessing hat seinerzeit nicht nur die Bibel, sondern selbstredend auch jene angegriffen, die ihre Macht und Willkür auf sie gründeten. (Er schrieb nicht, dass man die Bibel verwerfen müsse, um das Christentum zu reformieren; er vetraute auf die Kräfte von Vernunft, Säkularisierung und Aufklärung.) Kurz gesagt: Lessing beleidigte nicht den Propheten, sondern den, der den Propheten zum Zwecke von Politik und Machterhalt mißbrauchte. Auch das ist es, was eine theologische Streitschrift (insbesondere, wenn sie zu provozieren versucht), zwingend verlangt: einen „ebenbürtigen Gegner“, wie ihn Lessing seinerzeit in Johann Melchior Goeze, jenem späten Vertreter einer Lutherischen Orthodoxie, vorfand. Einen solchen Gegner nicht zu benennen (und es gäbe sie, gerade was den Koran angeht, zuhauf) und stattdessen diffus von „dem“ Koran oder „dem“ Islam zu sprechen, zeugt nicht nur von mangelnder Kenntnis und Sorgfalt, sondern ist geradezu fahrlässig; es öffnet der Vereinnahmung Tür und Tor und degradiert die historisch gewachsene und vielleicht mehr denn je berechtigte Form der „theologischen Streitschrift“ (bewusst oder unbewusst) zu einem bloßen Deckmantel für politische Meinungsmache.

III) Von der vergebenen Chance einer Streitschrift
Gerade 2014 (dem Jahr von IS, „Pegida“ oder auch der eidgenössischen Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“) muss sich eine theologische Streitschrift, die ihr eigenes Genre nicht ernst nimmt, den Vorwurf des „cui bono“, den „Beifall von der falschen Seite“, die Frage, wem man eigentlich das Wort redet, gefallen lassen.
Die „Streitschrift“, die Andreas Thiel in der „Weltwoche“ veröffentlicht hat, ist (so gern er das vielleicht hätte) kein solitärer, „freigeistiger“ Text über den Koran, sie steht nicht in einem luftleeren, geschichtslosen Raum, sondern sie schreibt sich in einen längst bestehenden Diskurs ein; durch ihre Beschränkung auf Textimmanenz durchdringt sie die Debatte nicht, sondern befeuert sie; sie bleibt, und da mag sie noch so viele schreckliche Zitate auflisten (was man im Übrigen mit jedem Werk tun kann), thesenhaft. Die Folge ist ein Verharren des Diskurses in den sattsam bekannten Ideologisierungen von „links“ und „rechts“, von „endlich sagt’s mal einer“ respektive „das wird man doch noch mal sagen dürfen“.
Vielleicht ist Andreas Thiel tatsächlich der festen Überzeugung, dass der Koran „der Kern des Übels“ sei, wie er schreibt, und dass sein, Thiels, Beitrag darin bestünde, der Welt dies bewusst zu machen? Vielleicht ist er tatsächlich der Auffassung, dass wirklich nur ein Islam ohne den Koran reformierbar und humanisierbar sei? Meine Überzeugung ist das nicht. Und ich finde in der langen Geschichte der Säkularisierung auch keinen Hinweis auf dergleichen (egal um welche Religion oder um welches heilige Buch es sich handelt).
Vorerst stehen bleibt eine Streitschrift, die es zuläßt, im Zuge eines vereinfachenden „Islam- Bashings“ gelesen zu werden, wie es das schon des Öfteren gab, nicht nur in dezidiert rechtslastigen Zeitschriften in Deutschland, sondern leider auch in der „Weltwoche“.
Ich maße mir nicht an, zu beurteilen, was Andreas Thiels Koran-Pamphlet für die politische Kultur und für die notwendige Auseinandersetzung mit dem Islamismus bedeutet (zumal es sich hier ja auch um eine schweizerische Debatte handelt, die sich von der deutschen unterscheidet), um die vertane Chance einer wirklich wahrhaftigen Streitschrift tut es mir leid.
Vielleicht trauere ich auch um die vergebene Möglichkeit einer bestechenden Islam-Satire, wie ich sie mir persönlich nicht zutraue, weil ich zu wenig von der Materie weiß und weil meine Themen andere sind. Andreas Thiel hätte das Zeug dazu, denn als Satiriker ist Andreas Thiel brillant und meiner Meinung nach um ein Vielfaches besser als als „politischer Autor“.

Jess Jochimsen, geboren 1970 in München. Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie. Lebt als Autor, Kabarettist, Fotograf und Musiker in Freiburg und unterwegs. Seine Bücher erscheinen im Deutschen Taschenbuchverlag.
Die vom 31.1. - 21.2. 2015 dauernde, gemeinsame Tournee mit Andreas Thiel hat Jess Jochimsen abgesagt. Hier findet sich eine ausführliche Begründung für diese Entscheidung.

„Der Schatten des Ostens. Eine Streitschrift von Andreas Thiel“ findet sich in: DIE WELTWOCHE, Ausgabe 48/2014. (Der Text ist auf der Homepage der WELTWOCHE ungekürzt und kostenfrei einsehbar.)

„Roger Schawinski im Gespräch mit Andreas Thiel“ findet sich in der TV-Sendung „Schawinski“ vom 15.12.2014. (Das Gespräch läßt sich in voller Länge auf der Homepage des SRF oder auf YOUTUBE nachgucken.)