Nur falsche Kleidung

In der Schule, auf die mein Sohn Tom nicht gern, aber doch regelmäßig, geht, gibt es in der Eingangshalle zwei riesengroße sogenannte „Schlamperkisten“.
In die eine – immer gut gefüllte – schmeißt der Hausmeister all die Jacken, Mützen, Pullis, Federmäppchen und Brotzeitdosen, die die 800 Kinder im Laufe des Schuljahres irgendwo vergessen oder liegenlassen. Jeden Nachmittag bildet sich dort eine wilde und wütende Menschentraube, bestehend aus entnervten Eltern, welche unter Gebrüll und Geschubse nach den verlustig gegangenen Dingen ihrer Zöglinge wühlen.
Ich gehöre nicht zu diesen Eltern, denn in der anderen Kiste (die noch voller ist als die erste) stapeln sich ausschließlich Sachen von Tom, was die Suche vereinfacht.
Mein Sohn ist der König der Schlamper, und weil Königen von jeher eine gewisse Ehre zuteil wird, hat er seine eigene Kiste. Das macht mir zwar das Finden leichter, ist aber natürlich trotzdem ein steter Quell der Enervierung und Peinlichkeit. Die anderen Eltern werfen mir haßerfüllte Blicke zu, weil sie für ihre Kinder auch eine eigene Kiste wollen, aber dazu müssten diese so viel Zeug verlieren wie Tom und das ist nicht zu schaffen.
Das Schlimme daran: Tom ist an sich weder vergesslich noch unordentlich, er „verlegt“ seine Sachen aus purer Absicht. Mittlerweile bin ich sogar überzeugt, dass er bestimmte Dinge gar nicht irgendwo liegenlässt, sondern bei vollem Bewusstsein und direkt in die Kiste entsorgt – das würde auch sein blendendes Verhältnis zum Hausmeister erklären, dem er so einiges an Arbeit abnimmt ...
Der Hintergrund des Ganzen: Tom ist jetzt cool. Sein adoleszenter Körper meldet seinem vorpubertierenden Hirn, dass bestimmte Sachen „aber so was von gar nicht gehen“ und das Hirn befiehlt Vollzug. Weg damit, ab in die Kiste!
Leider ist das mit dem Coolsein bei Tom wörtlich zu verstehen, denn die Dinge, die Tom „verliert“, sind in erster Linie: warme Dinge. Häufig geführte Vater-Sohn-Dialoge hören sich bei uns deswegen so an:
„Tom, wie kann man bitte seinen Mantel, seine Mütze und seine Winterstiefel in der Schule vergessen?“
„Ich habe einfach nach Turnen mein Sportzeug angelassen, Papa, kann doch mal passieren.“
„Das passiert dir aber andauernd!!! Außerdem hattest du doch heute gar keinen Sportunterricht ...“
„Mir war einfach warm, reg dich nicht auf! Die anderen haben auch Turnschuhe an.“
Ich sage dann verbotene Elternsätze wie „Du bist aber nicht die anderen“ oder „Es ist Winter und außerdem waren die Stiefel teuer“ und Tom grinst:
„Die werden schon wieder auftauchen, Papa, sind bestimmt in der Kiste.“
Ich gebe zu, dass ich in pädagogischen Fragen zur sinnvollen Winterbekleidung von Schulkindern etwas lax bin, weil meine Eltern diesbezüglich eine Paranoia hegten, die ich nicht wiederholt sehen möchte. Aus Angst, ich könnte erfrieren (der Junge verlässt das Haus und erfriert spontan auf dem Schulweg, soll ja vorkommen), schickten meine Eltern mich seinerzeit ab Anfang September mit Bommelmütze, Schal und Handschuhen los und machten mich so zum Gespött des Schulwegs. Natürlich handelte es sich um selbstgestrickte Fäustlinge, die auch noch mit einem Bändchen verbunden waren, damit sie der kleine Trottel nicht verliert. (Eine Schlamperkiste gab es damals noch nicht). Und selbstredend wurde ich zusätzlich auch noch in Strumpfhosen gesteckt, die in geschmackvollem kackbraun gehalten, ohne Eingriff und ebenfalls aus kratzender Wolle selbst gefertigt waren. Bis heute bin ich der Überzeugung: Die Welt wäre besser, wenn Mütter nicht stricken könnten!
Das möchte ich meinem Sohn gerne ersparen; der Preis dafür ist ein im Winter dauererkältetes Kind, was dieses nicht anficht, weil cool den Rotz Hochziehen einen prima Kontrast zu seinem gewählten Erscheinungsbild der tiefhängenden Hose darstellt.
„Tom, du holst dir noch eine Blasenentzündung.“
„Das kriegen nur Mädchen, Papa!“
Ich bin ratlos und bis auf Weiteres fahre ich also im Winter dreimal die Woche zur Schule, um Toms warme Sachen zu holen, auf dass er sie wieder dort deponiert.
Irgendwann, hoffe ich, wird der Klimawandel das Dilemma lösen, oder die Bekleidungsindustrie besinnt sich: Ich habe alles probiert, aber Wintersachen für angehende Jugendliche gibt es nicht in cool!
(Wenn Sie sich überzeugen wollen, gucken Sie in Toms Schule nach; Eingangshalle, linke Kiste, dort finden sie einen guten Überblick.)

© 2012 | aus: jess jochimsen, "krieg ich schulfrei, wenn du stirbst?" geschichten von einem chaotischen Grundschüler und seinem rabenvater, dtv

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