My private Pfingstwunder

Als die erste Techno-Party in einem Gotteshaus stattfand, kam die Säkularisierung bei sich an.
"Ein kleiner Schritt für die Kirche, ein großer Schritt für den Rave", hatten die Organisatoren noch getitelt, aber ich glaube, es war eher umgekehrt. Wenn "Liebe" die Botschaft ist, muss man eben diejenigen ranlassen, die das am besten verkaufen können.
Ich weiß noch genau, wie ich als stiller Beobachter auf einer Kirchenbank saß, voller Bewunderung, wie perfekt die Vorbereitungen getroffen wurden, wie reibungslos sich die Systeme ineinander verzahnten.
"Hier an der Säule braucht's noch fett Saft", rief ein Helfer, und der Messner öffnete eine Klappe und zauberte zwei Starkstromanschlüsse zum Vorschein.
"Das ist ja geil. Wofür braucht ihr die denn?"
Der Messner antwortete: "Für die Restaurierungsarbeiten an den Fresken."
"Die Bilder sind übrigens ziemlich cool, die lassen wir."
Man verstand sich. Ansonsten wurden reichlich Folien aufgehängt, Scheinwerfer angeschraubt, Kabel verlegt. Gemeindediener und Partymacher arbeiteten Hand in Hand. Dutzende von schweren Boxen fanden ihren Weg durch das Hauptschiff Richtung Altar. Auf der Kanzel wurde ein Videobeamer installiert.
"Hey, die Akustik ist einfach der Hammer", sagte einer, und ein anderer: "Einwerfen braucht heute keiner was, von dem Weihrauch kommst du besser drauf als von jeder Pille."
Überhaupt wurde viel gewitzelt. Über Kreuzigungen als Trendsport, über die Piercings des Heilands, über Gott und die Welt. Die älteren Zeremonienmeister lachten. Die weltlichen wie die kirchlichen. Und sie wussten, worüber.
Der Witz, auch der blasphemische, setzt eben Kenntnis voraus, Wissen. Ein Wissen, das die jüngeren Besucher der Tanzveranstaltung nicht mehr mitbrachten.
Natürlich wurde das Ganze ein paar Tage später in der Presse als das gewürdigt, was es nicht war: neu.
"Die Kirche betritt Neuland und öffnet sich der Jugend."
Die Kirche hat in den letzten 30 Jahren nichts unversucht gelassen, ihre Schäfchen ins Trockene beziehungsweise in ihre Räumlichkeiten zu bringen: Kaum einer meiner Altersgenossen, der nicht in christlichen Jugendgruppen, Skifreizeiten und Ferienfahrten sozialisiert wurde. Kaum einer, der nicht christlich politisiert wurde, mit allem, was dazugehörte: Nicaragua-Kaffee, Dritte-Welt-Laden. Auch populäre Musik erklang schon oft in den heiligen Hallen, gestandene Punkbands, die eine Pogo-Version von "Laudato si" zum Besten gaben oder Hardrock-Kappellen, die "Ins Wasser fällt ein Stein" nach d-moll transponierten, damit es ein wenig nach den Scorpions klang. Schön war das nicht, aber es war da: Das Zusammenspiel von Jugend und Kirche - peinlich, aber existent.
Mittlerweile scheint eine neue, restaurative Entwicklung eingesetzt zu haben. Die Kirche, vor allem die katholische, „schärft ihr Profil“. Die wenigen Jugendlichen, die da noch mitmachen, wollen’s hart: Jungfräulichkeit als Dogma, die Messe auf Latein; echte Hardcore-Christen, ganz anders als die Taizé-Hüpfer und Befreiungskirchlerinnen meiner Jugendtage.
Die meisten jungen Menschen aber scheinen das Interesse an und das Wissen über die Christliche Kultur verloren zu haben. Schon damals beim Rave hatte ich das Gefühl, dass den meisten der Ort ganz egal war. Gott war ein DJ – ganz ohne Ironie.
Man muss kein verdammter Kulturpessimist sein, um es schade zu finden, wenn Wissen verloren geht. Ich bin ein Atheist vor dem Herrn, aber ich trauere um die Geschichte und die Kultur der Kirche, um die Kunst und die Erzählungen.
Obwohl: Letztes Jahr an Pfingsten ließ ich mir eine christliche Jugendeinrichtung in Mainz zeigen.
"Das ist der Fernsehraum. Hier tagt normalerweise die Kinderbibelgruppe", erklärte mir der Sozialarbeiter. "Das Zimmer ist aus pädagogischen Gründen abschließbar."
Als ich die finsteren Gestalten sah, die auf den Sofas lümmelten, leuchteten mir die pädagogischen Gründe unmittelbar ein: Nicht das TV-Gerät sollte vor den Jugendlichen verschlossen werden, sondern die Kinder-bibelgruppe vor der Gesellschaft. In der Glotze lief ein Fußballspiel ohne Ton und man diskutierte angeregt.   "Schau dir doch mal seine Augen an, der ist doch bekifft bis zum Anschlag", sagte einer. Ein anderer meinte: "Wenn ich so 'ne peinliche Topfdeckel-Frisur hätte, würde ich mich auch vollpumpen. Außerdem hat er einen Mösenbart."
Ich brauchte eine Weile, bis ich begriff, dass man sich nicht über einen Abwehrspieler unterhielt, sondern über ein Heiligenbild, das an der Wand hing. Guck an, dachte ich, von wegen die Kids hängen alle vor dem Fernseher rum, hier werden noch Gespräche geführt.
"Wer is'n das überhaupt?", wollte ein Junge wissen, "Der Tschieses?"
"Ne, der hat doch lange Haare", bekam er zur Antwortet. "Im Übrigen hat Jesus Löcher in den Pfoten und die Hand von dem Typ da sieht eher aus wie die von Mr. Spock."
"Genau, das ist bei Enterprise geklaut. Das ist ein Vulkanier."
Aus irgendeinem Grund meinte ich, der Unterhaltung eine vernünftige Richtung geben zu müssen und warf ein, dass das Bild vermutlich älter sei als Star-Trek.
"Woher willst du das denn wissen?", wurde ich zurechtgewiesen. "Vielleicht ist der Maler in ein Raum-Zeit-Kontinuum geflogen."
Einleuchtend. Doch noch bevor ich etwas erwidern konnte, sagte der Kleinste in der ganzen Runde: "Ich glaube, es gibt eine logische Erklärung." Der Bub war höchstens zehn Jahre alt und fuhr fort: "Ich habe in der Zeichenstunde der Kinderbibelgruppe dem Jesus mal versehentlich sechs Finger an die Hand gemalt. Faszinierend. Weil das aber nicht realistisch ist, habe ich einen Finger wieder übermalt. So könnte das hier auch gelaufen sein."
Alle nickten und mir fiel auf, dass der kleine Junge merkwürdig spitze Ohren hatte. Nicht, dass mich das weiter verwirrt hätte, aber ich dachte: Solange die Kids noch so über Kunst und Kirche reden, ist alles gut. Meinen Segen haben sie. Ich spreizte Mittelfinger von Ringfinger, murmelte "live long and prosper" und verließ leise den Raum.

aus: christian bartel u. anselm neft (hrsg.), götter, gurus und gestörte, satyr-verlag, berlin 2009
verändert auch in: J.J., flaschendrehen, 2002 (© dtv)

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