Mein schönstes Ferienerlebnis

Früher konnte ich die Ferien nie genießen, wegen der Schule. Die war immer so präsent. Vor allem Deutsch. Der Deutschunterricht war das Schlimmste. Vor allem in den Ferien.
Als Schüler quälte ich mich die Hälfte meiner freien Zeit mit dem Gedanken an den zu Schulbeginn obligatorischen Deutschaufsatz "Mein schönstes Ferienerlebnis". Ich habe es gehasst. Die ganzen großen Ferien klopfte ich auf Erlebnishaftigkeit ab. Ich konnte gar nichts mehr einfach so erleben. Ständig wummerte diese Frage im Hinterkopf: "Ist es aufsatzrelevant?"
Erlebte man mal etwas Schönes, zum Beispiel einen zweiten Platz beim Ferienpass-Mal-Wettbewerb der katholischen Kirchengemeinde, wusste man nicht, ob das jetzt schon das schönste Ferienerlebnis war. Denn zwei Wochen später sollte es ja mit den Eltern auf diesen FKK-Campingplatz an der Riviera gehen, wo es in der Regel auch viel Schönes zu erleben gab, speziell im Bereich der menschlichen Anatomie.
Und dann war der Urlaub auf einmal vorbei, an die ersten Wochen konnte man sich nicht mehr erinnern, die menschliche Anatomie der freien Körperkultur war so spannend doch nicht gewesen, und eh man sich versah, saß man rauchenden Kopfes über dem Aufsatzheft. Diese linierten Hefte mit dem vorgegebenen farbigen Einband!
"Lasst Rand für die Korrekturen", sagte die Lehrerin immer, "lasst Rand für die Korrekturen, am besten, ihr knickt einige Zentimeter ab."
Und dann musste man auf die erste Linie "Mein schönstes Ferienerlebnis" schreiben, das mit einem farblich vorgegebenen Faber-Castell-Buntstift und dem Lineal zweimal unterstreichen, dann zwei Zeilen frei lassen und das Schönste, was man in den letzten Wochen erlebt hatte, zu Papier bringen. Ich meine, es war schon schwierig genug, mit den Buchstaben diese blöden Linien zu treffen, und nicht bei den vielen kleinen gs oder js in die tiefer gelegene Zeile abzurutschen, geschweige denn, sich an den Urlaub zu erinnern. Die Ferien kamen mir im Nachhinein regelmäßig grau und farblos vor, nichts hatte ich erlebt, nichts, nur wieder wertvolle Zeit meines Lebens vergeudet. Alle kritzelten wie wild in ihre Hefte, nur ich hatte nichts zu berichten. Mein Leben war so armselig, so langweilig, so kalt. Schon damals schwor ich mir: Wenn ich mal groß bin, fahre ich im Urlaub in die Schweiz und erlebe nichts!
Nur ein einziges Mal, ich erinnere mich genau, hatte ich wirklich was zu erzählen. Da habe ich mich die ganzen Ferien auf den Schulbeginn gefreut. Als wir dann den Aufsatz schreiben sollten, begann ich ohne zu zögern: "Diese Ferien ist mein Opa gestorben. Die Beerdigung war toll. Ich durfte so viel Cola trinken, wie ich wollte, und Pommes essen und Pacman spielen am Automaten..."
Es war wirklich toll gewesen, die Eltern sprachen beim Leichenschmaus über den Opa, was für ein feiner Mensch er doch gewesen sei, "ein Nazi, sicherlich, aber ein feiner Mensch", und wir kleinen Kinder bekamen, was wir uns wünschten. Das war das Entscheidende: Wenn Trauer herrscht, ist Pädagogik ausgeschaltet. Man will die Kleinen nicht noch mehr belasten.
Wir Kinder haben das ausgenutzt und die verbotenen Sachen bestellt:     "Kann ich noch eine Cola haben, bitte. Noch eine Cola, bitte. Bitte gleich fünf Cola noch. Und eine Cola, eine Cola, noch eine Cola. Kann ich noch eine Cola..."
Wurden die Eltern dann doch streng, reichte ein ganz leises: "Der Opa hätte uns jetzt bestimmt noch eine Cola gekauft."
Super. Abends waren alle rotzebesoffen, haben auf den Tischen getanzt und wir Kinder durften zum ersten Mal aufbleiben bis nach Mitternacht - wir waren noch ziemlich wach. Der einzige Wehrmutstropfen war, dass der Opa nicht mitfeiern konnte.
Ich erinnere mich gern an meinen Opa. Er hatte Zeit, war Kriegsinvalide und der Einzige, der sich so richtig um uns Kinder gekümmert hat. Er hat was mit uns unternommen, ist mit uns raus, in den Wald, ins Moor. Er hat uns gezeigt, wie man mit Fröschen spielt, und dass die auch rauchen können. Das war spitze. Der Opa hatte immer ein Päckchen Reval dabei, ohne Filter, er hat uns ziehen lassen und uns nicht verpetzt, was schon mal genial war. Und dann erklärte er uns das mit den Fröschen. Er nahm einen in die Hand, drückte ihn seitlich ein, dass sich die Lippen schürzten, und steckte die Kippe vorne rein. Dann paffte der Frosch richtig. Und bei jedem Zug blähte es den Frosch mehr auf, bis es ihn am Schluss zerriss. Das war klasse mit dem Opa.
Die Oma fand es nicht so gut, wenn uns der Opa wieder was beigebracht hat. Sie hat geschimpft. Und sie hatte viel Grund zum Schimpfen. Deswegen erinnere ich mich auch lieber an den Opa als an die Oma. Das hat sie jetzt davon.
Genau so habe ich das damals im Münchner Osten ins Aufsatzheft geschrieben. Ich bekam eine sehr schlechte Note.

© dtv / jess jochimsen. aus: j.j., flaschendrehen oder: der tag, an dem ich nena zersägte, münchen 2002

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