Literatur-Tipps 2009

Bov Bjerg, Deadline (Mitteldeutscher Verlag): Bov Bjerg kenne ich als großartigen Autor und Performer der Berliner Leseszene und sein erster Roman verdient es, schlicht und ergreifend sensationell genannt zu werden. Auf gerade mal 140 Seiten wird die Geschichte der „Gebrauchsanweisungsübersetzerin“ Paula erzählt, die sich in Leben und world wide web verliert, sich ihrer Entscheidungsunfähigkeit hingibt (und zwar um ein vielfaches glaubwürdiger als im hochgelobten „Unentschlossen“ von Benjamin Kunkel) und die überhaupt eine Heldin ist, wie sie bislang noch in keinem Buche stand. Für alle Blogger und Netz-Literatur-Liebhaber ist das Buch ohnehin ein Muss, aber auch allen anderen sei gesagt: selten hat ein Autor mit dem Verdikt „form follows function“ so ernst gemacht. Daneben ist „Deadline“ auch noch eine anrührende Liebesgeschichte, ein tragikomisches Road-Movie, eine tolle Familien-Skizze und überhaupt jetzt schon das beste Buch des Jahres (und des nächsten gleich mit).

Tilman Rammstedt, Der Kaiser von China (Dumont): Ja, Tilmann Rammstedt hat den Ingeborg-Bachmann-Preis verdient. Und die Kritiken haben auch recht: Man muss beim Lesen laut lachen! Diese „Lügengeschichte“ ist nicht nur gut geschrieben, sondern wirklich sehr, sehr lustig!

Michael Ebmeyer, Der Neuling (Kein & Aber): Auch Rammstedts Bühnenkollege bei FÖN, Michael Ebmeyer, hat einen neuen Roman geschrieben und es gelingt ihm, der alten Geschichte vom Aufbruch in ein neues Leben tatsächlich neue Seiten abzugewinnen. Ein scheuer Büromensch wird nach Sibirien geschickt, verliebt sich in eine schorische Sängerin und vergißt Stuttgart. Mehr kann man nicht verlangen.

Kjell Askildsen, Ein schöner Ort (Luchterhand): Endlich gibt es eine (vom Autor selbst zusammengestellte) Sammlung von Kurzgeschichten vom unbestrittenen skandinavischen Meister der Short-Story. Mein Gott, sind diese Erzählungen traurig! Einsamkeit, Enttäuschung, das Warten auf den Tod und die Suche nach dem Sinn - nie länger als 20 Seiten, oft schmerzhaft komisch, immer großartig!

Michael Stauffer, Soforthilfe (Roughradio bei Urs Engeler Editor): Juhu und Jippieh - vom Autor von „Haus gebaut, Kind gezeugt, Baum gepflanzt. So lebt ein Arschloch. Du bist ein Arschloch“ und „I promise when the sun comes up - I promise, i’ll be true. So sing Tom Waits. Ich will auch Sänger werden“ gibt’s was Neues. Und zwar ein schmales Bändchen, das als Ratgeber daherkommt und - wie immer bei Stauffer - brilliant und eigenwillig geschrieben, abgründig, schräg und schwarzhumorig ist. Was habe ich gelacht beim Lesen! (Noch besser ist es übrigens, sich diese Satzkaskaden vorlesen zu lassen, Michael Stauffer wird im November bei der SWR-POETENNACHT dabei sein und im Dezember das Freiburger „Vorderhaus“ besuchen.)

Rayk Wieland, Ich schlage vor, dass wir uns küssen (Kunstmann): So was kann man sich nicht ausdenken: Da bekommt Herr W. eine Einladung, auf dem Symposion für unterdrückte Dichter in der DDR aus seinem Werk zu lesen. Aber Herr W. war nie ein unterdrückter Dichter, er hat noch nicht mal gedichtet - wenn man von seiner pubertären Liebes-Lyrik absieht, mit der er seine Briefe an die geliebte (Brief-)Freundin aufpeppte. Doch genau um diese Lyrik geht’s - sie wäre zu Recht vergessen und verschollen, hätte die Stasi sie nicht akribisch gesammelt, aufbewahrt und interpretiert. Unfassbar: Da hat ein Geheimdienst nichts besseres zu tun, als die völlig harmlosen, schwülstig gereimten Liebesbeteuerungen eines Heranwachsenden über Jahre hinweg auf Staatsfeindlichkeit abzuklopfen - ein Staat der so etwas tut, geht aus gutem Grund unter.
Man hätte viel falsch machen bei der Literarisierung dieser wahren Geschichte; Rayk Wieland aber macht alles richtig und legt mit seinem ersten Roman ein hochnotkomisches, stilistisch einwandfreies Buch vor, das endlich einen Schlußstrich unter das „Das Leben der anderen“-Gedöns im „20 Jahre Wende“-Rausch zieht und die erbärmlichen Machenschaften der Stasi der Lächerlichlichkeit preisgibt.

Shalom Auslander, Eine Vorhaut klagt an (Berlin Verlag): Ein gottesfürchtiger Jude rechnet ab mit Gott - frappierend lehrreich, schockierend witzig und unglaublich unterhaltsam.

Erlend Loe, Ich bring mich um die Ecke (kiwi): Blöder deutscher Titel für ein schönes (Tagebuch-)Buch des norwegischen Spezialisten für skurrilen Humor; die 18jährige Julie versucht, sich umzubringen und schafft es einfach nicht. So was will man lesen!

David Gilmour, Unser allerbestes Jahr (S. Fischer): Die wahre und anrührende Geschichte eines Vaters, der seinem Sohn erlaubt, die Schule zu schmeißen, unter der Bedingung, dass sich die beiden gemeinsam drei Filme pro Woche ansehen. Newsweek schrieb: „Jeder, der Eltern oder Kind ist oder jemals im Kino war, wird dieses Buch lieben.“ Stimmt.

Anne Enright, Das Familientreffen (DVA): Ein schonungsloses, wütendes, zärtliches Buch über eine trauernde Familie, das zu Recht mit dem Booker-Preis geadelt wurde; und endlich mal eine trinkende und fluchende Heldin, die nicht mit den ausgelutschten Attributen der „Hysterie“ gezeichnet wird.

Ray French, Ab nach unten (dtv): Wer die Filme „The Full Monty“ oder „Brassed Off“ mochte, liegt mit diesem Roman richtig. Ein kleiner Werksarbeiter läßt sich in seinem Garten begraben, um gegen die Schließung seiner Produktionsstätte zu protestieren. Very british!

Markus Orths, Das Zimmermädchen (Schöffling & Co.): Der Autor war, wie er in einem Interview zugab, selber überrascht, dass viele Leser sein neues Buch als „oft komisch“ rezipierten. Dabei ist „Das Zimmermädchen“ das intensive Portrait einer obsessiven Frau, die sich unter die Betten der Hotelgäste legt, um herauszufinden, wie den Menschen gelingt, was ihr so schwerfällt - das Leben. Ein knapper, großartiger Roman, der einmal mehr beweist, das Markus Orths zu den besten jüngeren Schriftstellern dieses Landes gehört.

Andreas „Spider“ Krenzke“, Imbiss wie damals (Volant & Quist): Das neue Buch vom Berliner „Surfpoeten“ ist wie sein altes: Grandios! Fies, trocken, sehr lustig und mit beigelegter CD. Was will man mehr?

Und abschließend noch ein Dank: An Rotraut B., die mir nach einem Auftritt im hohen Norden „als Dank für die Büchertipps“, welche ich von Zeit zu Zeit an dieser Stelle gebe, ihr Lieblingsbuch schenkte.  Es heißt „Der Fliegenfänger“ (The wrong boy; Heyne Verlag), geschrieben hat es Willy Russell und jetzt ist es auch mein Lieblingsbuch. Wirklich - das ist ein todkomischer, tieftrauriger, ganzganzganz wunderbarer Roman und (nicht nur für Morrissey-Fans) eine absolute Pflichtlektüre.

© 2009 jess jochimsen

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