Jugend trainiert für Georg Büchner oder: So fühlt sich also Ruhm an

Wenn man eine behördliche Mitteilung nach § 46 Absatz 3 Urheberrechtsgesetz bekommt, heißt das, dass man den Brief erstmal nicht aufmacht, sondern ungelesen auf den Stapel mit den Rechnungen packt. Irgendwann liest man den Brief dann doch, und das erste, was man erfährt ist, dass man eine Widerspruchsfrist von zwei Wochen besitzt, die seit drei Tagen abgelaufen ist. Und schon ist es passiert: Man wird Klassiker.
§ 46 Absatz 3 UrhG besagt, dass Schulbuchverlage das Recht haben, Texte nachzudrucken, weil die Bildung ein frei’ und kostbar’ Gut ist und Deutschland das Land der Dichter und Denker und jetzt singen wir gemeinsam den schönen Literaturkanon „Lobet und preiset ihr Völker den den Ernst Klett Schulbuchverlag“.
Holy shit – der Klettverlag druckt einen Text von mir! Unfassbar. Ich stehe in einem Schulbuch drin. Tausende von Schülern, was sage ich, von Schülergenerationen, werden mich lesen, interpretieren, sie werden Klausuren schreiben und sich quälen mit der Frage: „Was will uns der Autor damit sagen?“
Sofort setze ich einen Brief an meine Mutter auf: „Liebe Mama, es ist vollbracht, dein Sohn wird Unterrichtsstoff. Bis es soweit ist, schick’ bitte Geld.“
Das Buch heißt „Deutsch Punkt 1 Gymnasium“ und ist eine 60 Beiträge umfassende Textsammlung. 60 Texte, vom Barock bis zur Gegenwart, und ich bin dabei, mein lieber Herr Oberförster: Goethe, Schiller, Jochimsen. Ich rufe beim Autohaus Gammelsbacher an und bestelle ein neues Auto.
Den Text, der von nun an zum Kanon der deutschen Literatur gehört, habe ich in den späten 90ern geschrieben, er heißt „Winnetou auf dem Bonanzarad“ und im Klett-Buch findet er sich im Kapitel „Heldentaten – Unterhaltsame Tagträume“, zwischen einer Erzählung von Kafka und einem Gedicht von Erich Fromm. Kafka und ich, wir sind aber auch zwei unterhaltsame Tagträumer...
In meinem Text, an dem sich in den nächsten Jahren Legionen von Germanisten die Zähne ausbeißen werden, geht es strenggenommen darum, wie ich als Indianer verkleidet auf meinem Fahrrad zur Bäckerei reite. Wie der Titel schon symbolhaft verschlüsselt andeutet, bin ich Winnetou und mein Bonanzarad ist Iltschi. (1)
Um dem psychoanalytischen Deutungsansatz sowie der Literaturhermeneutik gleich mal den Wind aus den Segeln zu nehmen: Erstens hatte ich ich so einen Drahtesel und zweitens ist das Bonanzarad das einzig Iltschikompatible Fahrrad. Mit einem Mountainbike kann man nicht Indianer spielen, ein Indianerpferd mit 24 Gängen und Sportsattel, das sieht doch scheiße aus. Überhaupt, wo auf einem Mountainbike soll Winnetous Schwester Ntschotschi sitzen? Hinten? Das sind Schmerzen. Nein, ein Indianerpferd, so geht’s schon mal los, hat drei Gänge, nicht mehr und nicht weniger: Trab, Galopp und... Supergalopp. Wie auch immer, im Schulbuch sieht mein Text auf jeden Fall klasse aus, links am Rand sind die Zeilen sogar liebevoll durchnummeriert; das ist doch schon mal ein prima Anfang für das Textverständnis. Besonderes Augenmerk sollen die Schüler auf die Dialogstruktur legen, heißt es in der Arbeitsanweisung. Die ist aber auch toll, die Dialogstruktur, wenn ich mich mal zitieren darf.
Ich binde Iltschi also lässig an ein Verkehrsschild, was nicht übermäßig cool aussieht mit dem Zahlenschloss, und betrete in meiner aus einem Skianzug improvisierten Winnetouverkleidung die Bäckerei.
Der Bäcker sagt: „Wie schaust du denn aus, Kleiner? Magst du eine Brezel?“
Ich sage: „Wann wird der weiße Mann endlich verstehen, dass wir seine Geschenke nicht nötig haben?“
Der Bäcker sagt: „Haben sie dir ins Hirn geschissen?“
Hohe Literatur halt. Ein kafkaesk unterhaltsamer Tagtraum. Ich überlege, ob ich anfangen soll, Pfeife zu rauchen, schließlich bin ich Dichter. Dann hake ich bei Gammelsbacher nach, ob das neue Auto schon eingetroffen ist.
„Was hat hat sich der Autor dabei gedacht?“ Keine Ahnung. Ich frage mich, ob es redlich wäre, den Schülern zu gestehen, dass ich beim Abfassen des Textes betrunken war. Ach was, wahre Kunst entsteht immer im Rausch.
Um die Bodenhaftung nicht zu verlieren, aber auch weil das Auto auf sich warten läßt, fahre ich mit dem Zug (2) nach Mönchengladbach.
Es ist kein Zufall, eher ein Wink des Schicksals, dass ich just heute eine Autogrammstunde geben soll; genauer gesagt, meine erste Autogrammstunde überhaupt. Aber hey, ich bin ein Klassiker, da bleibt sowas nicht aus. Wenn das Schulbuch erstmal erschienen ist, wird es zu meinem täglichen Geschäft gehören. Vielleicht ist es ganz gut, derartiges in der Provinz schon mal zu üben, damit ich mich bei der Büchnerpreisverleihung nicht blamiere? Zu meinem Erstaunen signiere ich nicht in einer Buchhandlung, sondern am „Kartenvorverkaufsdesk“ des „Ticketcorner“ des örtlichen Kaufhauses „Saturn“. An einer Pinnwand sehe ich, wer vor mir schon da war: Günther Grass, Marianne Rosenberg und Eko Fresh.
„Hallo, Herr Joachimson“, begrüßen mich die beiden zauberhaften Saturnmitarbeiterinnen, „wir haben den Tresen schon mal freigeräumt, damit Sie Platz für Ihre Autogrammkarten haben.“
Autogrammkarten ist ein gutes Stichwort. Gehört irgendwie dazu, finde ich.
„Wo sind die denn?“, frage ich.
„Ja, haben Sie denn keine mit?“
Ich habe noch nicht mal Autogrammkarten. Ich war auf den plötzlichen Ruhm nicht eingestellt. „Äh“, sage ich, „da hat mein..., da haben meine Agenten wohl vergessen welche zu schicken.“
Die beiden Damen nicken verständnisvoll.
„Na, dann werden wir wohl ... improvisieren müssen?“
Was hätte Erich Fromm an meiner Stelle jetzt getan? Haben oder Sein? Ich bestelle das neue Auto wieder ab. Und fotokopiere im Saturneigenen Copyshop mit meinem letzten Geld 200 Mal mein Passfoto. Dichter sind erfinderisch.
Um’s kurz zu machen: Eine Stunde am „Kartenvorverkaufsdesk“ des „Saturn-Ticketcorner“ kann verdammt lang sein, vor allem, wenn nur alle zehn Minuten jemand vorbeikommt, um nach dem Preis für „Riverdance in Düsseldorf“ zu fragen.
Ich habe exakt drei Autogramme gegeben. Zwei an die zauberhaften Mitarbeiterinnen des Saturn und eines an einen älteren Herrn, der meinte: „Gib misch eins für meine Nichte, die sammelt jeden Scheiß.“
So fühlt sich also Ruhm an.

(1) „Iltschi“: Winnetous Pferd; im Gegensatz zu „Hatatitla“, Old Shatterhands Gaul.
(2) Privatjets finde ich albern. Außerdem möchte ich den Zeitungen lesen: „Der Erfolg ist ihm nicht zu Kopf gestiegen, es ist völlig normal geblieben.“

aus: „Ich krieg die Krise! Kabarettisten packen aus“, WortArt, Köln 2011. Erweiterte Auflage 2013.
ebenso in: „Schwabinger Schaumschläger – Sex Jahre“, hrsg. v. Michael Sailer, Moses Wolff u.a., p.o.d., München 2013.
ebenso in: „Fahrradspaß“, hrsg. v. Alexander Kluy, Reklam, Stuttgart 2014.

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