Jeff. Über den ersten Roman von Luke Wilkins

Lässt man sich auf Luke Wilkins’ Debut-Roman ein, liest ihn langsam und genau, und viele Passagen mehrfach, so hat man am Ende der gerade mal 200 Seiten nicht nur an einem bemerkenswerten literarischen Vexierspiel teilgenommen, sondern vor allem einen Autor entdeckt, dem Schreiben tatsächlich niemals Tätigkeit ist, sondern stets schiere Existenzform.
Es braucht Zeit, bis sich ein Handlungsrahmen herauskristallisiert: Manfred Schmidt, ein junger Musiker mit schweizerisch-britischen Wurzeln, flieht nach dem Tod des Bruders von Deutschland nach Biel im Kanton Bern. Sieben Jahre lang verweigert ihm die Schweiz ein Ankommen. Zwar musiziert er mit Lidia, liebt sie, verliert sie, aber in erster Line verliert er sich selbst – in der ihn abstoßenden Fremde und in einem zufällig gefundenen Buch. Über Jahre hinweg trägt er den Roman „Aus dem Halbschlaf hochgeschreckt“ ständig bei sich, wird ergriffen, besessen und „hoffnungslos absorbiert“ von einer Geschichte, die nicht die seine ist. „Ich war in die Gefangenschaft eines Buches geraten.“
Die Lektüre saugt ihn aus, aus dem Lesen wird ein Schreiben, aus dem Schreiben ein Einswerden mit dem titelgebenden Protagonisten Jeff. Irr und mit blutendem Schädel findet der Held erst im vorletzten Kapitel Aufnahme und Erlösung, welche in zwei, auch so gekennzeichneten, „Variationen“ angeboten wird: einmal in der reinen Begierde (als roh vollzogener Geschlechtsakt mit einer schönen Schweizerin), einmal als endlich geglückte musikalische Improvisation (mit dem „helvetischen Nigger“ Johnny).
Die Erzählzeit umspannt wie im „Ulysses“ (die berühmte Toilettenszene wird komplett wörtlich wiedergegeben) genau einen Tag und natürlich ist es hier der 1. August, Nationalfeiertag. Überhaupt sind es die geschichtlichen und literarischen Verweise, die die Spuren legen. In den zahlreichen Fußnoten finden sich – neben Joyce – Döblin, Kafka, Benjamin und immer wieder Hermann Burger. Es ist ein großes Verdienst, diesen kongenialen, viel zu früh (von eigener Hand) gestorbenen, Autor dem Vergessen zu entreissen und seitenweise aus dessen Abrechnungs- und Liebesroman „Die Künstliche Mutter“ zu zitieren. Wie Burgers Figuren bestehen auch die von Wilkins nicht aus Fleisch und Blut, sondern ausschließlich aus „toten druckerschwarzen Buchstaben“ und spielen doch zugleich permanent mit Fiktion und Faktizität. Vom virtuosen Geigenspiel bis zur genauen Wohnadresse sind sämtliche biographische Daten von Manfred (Jeff) deckungsgleich mit denen des Autors. Nur seine Vergangenheit als Fernsehserienschauspieler lässt Wilkins – sehr bewusst – außen vor.
In Anlehnung an Heinrich von Kleists berühmtes Prosastück nannte Hermann Burger seine Poetikvorlesung „Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben“. Man darf sich Luke Wilkins als seinen Meisterschüler vorstellen. Wer es etwa wagt, zu Beginn einer Geschichte eine harmlos schlingernde Amsel als musikalisches Motiv zu setzen, es immer wieder zu variieren und 150 Seiten später aufzulösen in Milan Kunderas Traktat von der „Invasion der Amsel in die menschliche Welt“ und der dadurch veränderten Grundordnung des Planeten (aus „Vom Lachen und Vergessen“), der hat verstanden, zu was Literatur imstande sein kann.
Klaus Theweleit hat den sperrigen, überbordenden „Jeff“ zu Recht als „Künstler“-Roman bezeichnet, in dem „sich das gescheiterte Liebespaar Narziss und Echo eine zweite Chance verdienen.“ Luke Wilkins hat diese Chance genutzt.

(Zuerst erschienen in: Badische Zeitung, 26.11. 2018)

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