Friede, Freude, Eiersuchen

Was ich total furchtbar fand als Kind, waren Wochenenden und Ferien.
Der Eberhard und die Renate blieben ewig im Bett. Ich wollte frühstücken, und die haben erst mal rumgemacht. Anders formuliert: Weil Zeit war, erinnerten sich meine Eltern an den eigentlichen Sinn ihres Zusammenlebens und liebten sich wie die Fischotter. Da hätte ich, selbst wenn der Willen vorhanden gewesen wäre, keine Chance gehabt, weiter zu schlafen. Pink Floyd konzeptrockte in ohrenbetäubender Lautstärke, die Renate hat geschrien wie am Spieß, der Eberhard gebrüllt wie ein Stier, und mir knurrte der Magen.
Irgendwann kamen sie dann doch aus ihrem Schlafzimmer heraus, und wenn sie das Bettlaken mitbrachten, wußte ich: Das wird heute wieder ein Scheißtag. Denn Bettlaken bedeutete Wandern, und Wandern habe ich gehaßt. Wie alle Kinder. Ab dem Moment, an dem man an Spazierengehen, Bergsteigen und anderen Freizeitgestaltungen auf Schusters Rappen Gefallen findet, ist man kein Kind mehr, sondern hat welche. Wie alle Kinder konnte aber auch ich mir meine Eltern nicht aussuchen, und in meinem Fall war das besonderns schlimm.
Wir nämlich wanderten nicht im engen Familienkreis. Sämtliche Freunde und Bekannten meiner Eltern waren mit von der Partie; ein regelrechter Wandertag machte sich da auf den Weg. In die Stadt. Wir sind ja nie aufs Land gefahren, immer in die Stadt. Der alte Mercedes wurde weit außerhalb geparkt, und dann sind wir losgelaufen, in Richtung Stadtmitte. Ich hielt das für ein mehr als albernes Unterfangen, man hätte durchaus die U-Bahn nehmen können, eine Gruppenermäßigung wäre locker drin gewesen. Aber nein: zu Fuß. Stundenlang. Es wurden sogar extra Straßen abgesperrt, damit man besser wandern konnte. Komme, was wolle.
Es gibt kein falsches Wetter, nur falsche Ausrüstung, aber anstatt fester Kleidung und einer anständigen Brotzeit haben alle ihre Bettlaken mitgenommen. Ich dachte mir nur: Was für ein perverser Verein. Dabei wollte gar niemand in der Stadt übernachten. Alle haben ihre befleckten Laken zwischen zwei Stangen geknotet und die dann spazieren getragen. Es handelte sich um eine Art St. Martins-Umzug für Erwachsene. Ich geh' mit meinem Bettlaken, rabimmel rabammel rabumm! Da verliert man als Kind den Glauben an den mündigen Menschen. Ich schämte mich zu Tode, wenn mich ein Schulkamerad gesehen hätte, wäre ich die Rolle als Klassendepp nie mehr losgeworden.
Als ob das nicht schon genug der Peinlichkeiten wären, hatten alle ihre Bettlaken auch noch beschriftet. Auf dem besudelten Laken meiner Eltern stand:
"Petting statt Pershing!"
O Mann! Petting kannte ich, das hatte es ja eben erst gegeben, in der Früh, live daheim. Angesichts dessen mußte Pershing etwas Grauenvolles sein. So lief sie ab, meine politische Grunderziehung: Bettlaken einsauen, beschriften und dann stundenlang in der Öffentlichkeit demonstrativ hochhalten. Für den Frieden. In solchen Momenten habe ich mich nach Pershing gesehnt.
Ich habe nie kapiert, warum ausgerechnet meine Eltern für die Atomkraftwerke und den Weltfrieden zuständig waren - und das jedes Wochenende. Und an den Feiertagen. An Pfingsten. AN OSTERN! Da unternahmen wir dann mehrtägige Ausflüge. Mal nach Brokdorf, mal nach Bonn, klassische Urlaubsziele eben. Meine Mutter und ihr Osterferien-Schlachtruf:
"Auf geht's, Bua. Wir fahr'n nach Gorleben zum Zelten!"
Toll! Mein jährlicher Abenteuerurlaub, Spazierengehen im trauten Kreis von 10000 Leuten, die alle so aussahen wie der Eberhard und die Renate - da wurde dir mulmig. Friedlich ist anders!
Schon das Event klang so friedlich: Der Ostermarsch, mit Betonung auf Marsch. Eine brüllende, wilde Horde kriegsmüder Hippies marschierte flankiert von bis an die Zähne bewaffneten, friedensbereiten Ordnungshütern. Als Kind wußte ich nicht, vor wem ich mehr Angst haben sollte. Na denn, Frohe Ostern und nichts war's mit Eier suchen - Eier werfen stand auf dem Programm. Am österlichen Brauchtum bin ich komplett vorbeierzogen worden.
Die Krönung des Ganzen war jedoch das Motto der Veranstaltung: Frieden schaffen ohne Waffen! Jedes Kind wußte, daß das Unsinn war. Der Gegner erschien bestens ausgerüstet in der Arena. Die Polizisten rückten an mit Tränengas und Wasserwerfern, und meine Eltern standen da mit Schmutzwäsche.
"Paßt's bloß auf, ihr Bullenschweine, wir haben nämlich Bettlaken!"
Die Laken wurden als erstes gewaschen. Dann wir. Ohne Vorwäsche, kein Schongang, gleich Schleudern. Ordnungshüter mit Persilschein, Clementine an der Flak - BLAMM! -, da weiß man, was man hat!
Und dann sind alle weggelaufen. Alle außer mir. Ich konnte nicht mehr, die Beine taten mir weh vom Wandern, ich war total durchnäßt, halb verhungert, Rotz und Wasser habe ich geheult, teils wegen des Tränengases, teils, weil die Renate und der Eberhard einfach weg waren. So sah mein Osterfest aus. Jedes Jahr. Ich habe nicht eine Minute lang Eier gesucht, sondern zwei Tage meine Eltern.
Was hätte ich darum gegeben, nur ein Mal, ein einziges Mal, normal Ostern zu feiern. Wie Harald, Erwin oder Astrid. Offen gebe ich es zu, ich habe mich nach Spießigkeit gesehnt. Ich wollte so sein wie die anderen. Ich wollte Ferien haben, wie sie alle hatten. Ostern, jenes idyllische Fest der Familie, der friedvollen, harmonischen Zusammenkunft, an dem gesunde deutsche Kinder selig-suchend durch Einfamilienhäuser tapsen. Das wollte ich, und "Schmunzelhase!" rufen. Von strahlenden Erziehungsberechtigten wollte ich liebevoll den Weg gewiesen bekommen: "Der Osterhase hat's dir gar nicht schwer gemacht, Mäuschen." Ich wollte große Kulleraugen haben wie die anderen und trunken sein vom Erfolg, weil ich nach nur ganz kurzer Zeit das zweieinhalb Meter große marzipangefüllte MILKA-Häschen gefunden hatte. "Schmunzelhase!" Und Eltern wollte ich, die strahlend vor Glück waren, ob dieser detektivischen Meisterleistung, weil es nämlich gar nicht so einfach gewesen war, den lila-leuchtenden Schoko-Koloß hinter dem durchsichtigen Wohnzimmervorhang zu entdecken. Ich wollte Eltern, die daraufhin "der Kleine macht bestimmt mal Abitur" sagten und stolz die Polaroidkamera zückten, um Tausende von Bildern zu schießen, wie das gelungene Produkt ihrer Erziehung die kleinen Beißerchen durch die Aluhülle hindurch in die Schokolade schlägt. Und dann wollte ich mich glücklich und routiniert auf der erst kürzlich erworbenen IKEA-Coach übergeben. All das wollte ich.
Sattdessen lag ich auf einer Demo im Schlamm.

aus: J.J., Das Dosenmilch-Trauma. Bekenntnisse eines 68er-Kindes, München, © dtv 2000

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