Einzelzeitfahren über drei Pils. Ein Versuch über Sport und Literatur

Vielleicht, um meiner Germanisten-Mutter zu entkommen, pflege ich einen sportlich zu nennenden Umgang mit Literatur. "Hast du den neuen Ingo Schulze gelesen?", fragt sie. "Ja", sage ich, "in exakt 7 h 42 min 12 sec." - "Mehr fällt dir dazu nicht ein?" - "Na ja, hätte ich vorher mehr DDR-Literatur trainiert, wäre ich vielleicht schneller gewesen."
Der Grund für mein Tun liegt wohl irgendwo zwischen erklärbarem Fluchtreflex und unerklärlichem Faible. So sammle ich neben anderem Verben, die in der Welt des Fußballs nicht vorkommen, "irrlichtelieren" zum Beispiel; dabei wäre "was irrlichteliert Klose heute wieder durch den Strafraum" ein schöner Satz. Zum Ausgleich liste ich Adjektive auf, die außerhalb des Fußballfeldes ausgestorben sind, wie etwa "lupenrein", ein Beiwort, dass ohne den Nominalzusatz "Hattrick" unbrauchbar ist. (Schade um den Ausruf: "Mutter, also die Gardinen... Lupenrein!")
Auch neige ich zu bescheuerten Rankings, wie sie dem Sport entlehnt und eigen sind. (Anschauungsweise prämiere ich mal "Die drei schönsten Romane mit richtig vielen Fußnoten drin". Bronze: "Memoiren einer Verblühenden" von Marion Pfaus. Silber: "Der dritte Polizist" von Flann O'Brien. Gold: "I promise when the sun comes up..." von Michael Stauffer.)
Sportlicher Umgang mit Literatur eben. "Einen Versuch legen" hieße für mich, den umgekehrten Weg zu gehen und den Umgang der Literatur mit dem Sport zu untersuchen, wohlwissend, dass dies das klassische Feld meiner Germanistenmutter ist. Sie weiß, dass Handkes "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" kein Fußballroman ist und würde mir sofort die "Schachnovelle" um die Ohren hauen, welche - "da sind wir uns ja wohl einig" - nicht nur "die Bibel der Schachspieler, sondern das beste Sportbuch überhaupt" sei. (Nein, Mutter, das ist es nicht. Das beste Buch über Schach und somit über Sport stammt von Thomas Glavinic und heißt "Carl Haffners Liebe zum Unentschieden".)
Schnell käme meine Germanistenmutter (die neben Schach ohnehin nur noch Radfahren überhaupt als Sport gelten lässt) zu dem Urteil, dass massentaugliche Ballsportarten sowieso illiterabel seien und nur "als Ausdruck von Welt zum literarischen Referenzsystem" taugten (vgl. Fußball bei Hornby, Baseball bei Roth, Lacrosse bei Irving usw.).
"Der Sportler als Held" - nach ihm würden wir wohl als nächstes suchen (immer vorausgesetzt, ich wagte den Versuch, mit meiner Germanistenmutter zu streiten.) Es ist vor allem der Boxer, würde sie sich festlegen, weil: Underdog, archaisch, Halbwelt. "Warum hat dieser Clemens Meyer wohl so einen Erfolg?" (Ja, warum eigentlich? Der schönste Boxer-Roman ist von Olivier Adam und heißt "Leichtgewicht". Die schönste Beschreibung eines Boxkampfes allerdings findet sich in Christoph Simons "Luna Llena".)
Irgendwann würde meine Germanistenmutter mich herausfordern: "Bring mir einen guten Roman, in dem 20 Seiten am Stück anspruchsvoll die Tour de France verhandelt wird, dann reden wir weiter."
Nun würde ich abwinken. Aus Gründen der Fairness. Weil ich diesen Roman - zufällig - schon gefunden habe, bei meinem Ranking "Die drei lesenswertesten Bücher vor/während/nach und über Alkohol-Mißbrauch". 1) Eugen Egner, "Aus dem Tagebuch eines Trinkers" 2) Simon Borowiak, "ALK" 3) Dimitri Verhulst, "Die Beschissenheit der Dinge" - und in just diesem Buch wird über 30 (!) Seiten die gesamte (!!) Tour de France von der lokalen Trinkerprominenz wettbewerbsmäßig "nachgesoffen", Spitzen- als Breitensport. Fünf Kilometer entsprechen dabei einem Bier und so werden die neunzehn Etappen minutiös genau, Tag für Tag (und inklusive der Dopingproblematik) "runtergetrunken". Um die Wette. Schließlich gilt es das gelbe Trikot des Meistertrinkers zu erringen... Der Prolog, ein "Einzelzeitfahren über drei Pils" ist noch ganz lustig, aber dann entwickelt sich ein Szenario, das an erschütternder Komik und tragischer Tiefe schwer zu überbieten ist. Sicher, Sport ist das keiner mehr, aber das ist die Tour de France auch nicht.
Nein, Mutter, ich lege diesen Versuch nicht.

© 2008 jess jochimsen. zuerst erschienen als "einen versuch legen" in: taz