Eine Kuh namens Alfred

Für meinen Sohn Tom und mich war das schönste Erlebnis dieses Jahres definitiv die Sache mit der Kuh Alfred – einer Kuh, die zwar gesichert eine „sie“ war, die Tom aber trotzdem „Alfred“ taufte; vielleicht weil Johnny Cashs „A Boy named Sue“ als letztes Lied im Autoradio lief, bevor die Batterie schlapp machte.
Es war im Spätherbst, als Tom und ich endlich unseren „Vater-Sohn-Urlaub“ in Angriff nahmen: eine Woche in die Berge, nur wir beide, mit Zelt, ausreichend Proviant und viel Abenteuer. Das war der Plan, als wir Anfang November auf einem gottverlassenen, gefühlt einem Meter breiten Alpensträßlein durch den Schweizer Herbst-Niesel fuhren.
Unser „Basis-Camp“, ein abgelegenes Hochplateau, sollten wir nie erreichen, denn mitten auf der Strecke, umgeben von Geröll, Wald und Einöde stand plötzlich eine Kuh auf der Straße und machte ein Weiterfahren unmöglich. Wir versuchten es mit gutem Zureden, mit Scheuchen, mit Locken, wir probierten sogar – Tierschützer mögen uns vergeben – das Rind ganz behutsam mit dem Auto von der Straße zu schieben, nichts half. Die Kuh bewegte sich keinen Zentimeter. Selbst dann nicht, als Tom zum Äußersten griff und den fleischigen Hornträger anbrüllte: „Du blödes Vieh, wenn du nicht weggehst, essen wir dich!“
„Irgendwann wird die Kuh schon verschwinden“, sagte ich, sie tat es nicht. „Oder der Bauer kommt oder sonstwer“, sagte Tom, aber niemand kam.
Wenn man einige Stunden zum Nichtstun verdammt in der Wildnis steht und einer tonnenschweren Rinderdame beim Wiederkäuen zusieht, wird man sehr demütig, aber auch fatalistisch: „Weißt du was, Tom“, sagte ich irgendwann, „jetzt schauen wir mal, wer den längeren Atem hat.“
Wir schlugen unser Zelt direkt neben Auto und Kuh am Straßenrad auf, machten ein Feuer, labten uns an unseren Vorräten und freuten uns des Lebens. Die Kuh freute sich ebenfalls, denn am nächsten Morgen stand sie immer noch da – als gäbe es keinen schöneren Ort auf der Welt als eine Schweizer Alpenstraße und keine bessere Gesellschaft als zwei bekloppte Deutsche, die sich hingebungsvoll in ihr Schicksal fügten. Der Tag verging mit Kuh-Angucken, Kuh-Streicheln, Kuh-Füttern und mit-der-Kuh-Reden – was man halt gerne so macht im Urlaub. Es war toll.
Auch Alfred – Tom hatte die Kuh mittlerweile zärtlich mit Mineralwasser getauft – gefiel es, und zwar so gut, dass sie in der zweiten Nacht ihrer Familie Bescheid gegeben haben musste, denn am dritten Morgen war unser Wagen umringt von einer ganzen Rinderherde. Dass nun auch unser Rückweg versperrt war, machte uns nichts aus, wir wollten nirgendwo anders mehr hin. Das Zusammensein mit treu-glotzenden und friedlich vor sich hinschweigenden Rindern ist das beste der Welt, es führt zu grenzenloser Entspannung, Einswerden mit der Natur und der Erkenntnis, dass Indien in der Schweiz liegt. „Kühe sind wirklich heilig“, entschied Tom und sah deshalb von seinem Vorhaben ab, Alfred zu melken. Stattdessen half er rührend und gewissenhaft bei Pflege und Integration des Kälbchens „Bastian-Mesud“.
Nachdem wir zwei weitere glückliche Tage im Kreise unserer „neuen Familie“ verbracht hatten, wanderten wir ins Dorf hinunter, um unsere Vorräte aufzufüllen und „Kuh-Leckerli“ zu besorgen.
Als wir zurückkamen, war die Herde verschwunden, und die beiden Gendarmen, die ziemlich ratlos unser Lager sowie das die Straße blockierende Auto betrachteten, kamen in einige Erklärungsnot, als Tom sie heulend und tobend bestürmte, was sie mit „Alfred, Bastian-Mesud und den anderen“ gemacht hätten.
Toms Trauer mag letztlich der Grund dafür gewesen sein, dass sie uns statt eines Strafzettels Starthilfe gaben und Tom ihnen das Versprechen abnahm, „immer gut auf die Kühe aufzupassen“, bis wir nächsten Urlaub wiederkämen.
Als wir heimfuhren waren Toms Tränen einer schwelgenden Erinnerung gewichen und wir befanden, dass die Bezeichnung „Bullen“ für Polizisten im Grunde eine Auszeichnung sei.
Im Autoradio lief ein Song des großartigen Berner Songwriters Hank Shizzoe: „21.264 Cowboys – and no one lousy Cow around“.

© 2012 | aus: jess jochimsen, "krieg ich schulfrei, wenn du stirbst?" geschichten von einem chaotischen Grundschüler und seinem rabenvater, dtv

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