Eigentlich hätten wir glücklich werden können

[geschrieben für die wunderbare Rubrik „200-Wörter-Roman“ der Stuttgarter Stadtzeitung LIFT, in der der erste Satz vorgegeben (und immer gleich) ist  - und man dann in exakt 200 Wörtern eine zu diesem Satz passende Geschichte schreiben muss. Zählt ruhig nach...]

EIGENTLICH HÄTTEN WIR GLÜCKLICH WERDEN KÖNNEN, damals, als Mutter und ich sechs Wochen lang ziellos durch Jugoslawien fuhren, das noch so hieß und ein weites, wildes Land war.
Vater hatten wir schon zu Beginn der Reise verloren, als wir zwischen den Hochhäusern einer Vorstadt herumirrten. „Alles Bauern hier“, schimpfte er noch, da traf ihn ein, aus dem fünften Stock stürzender Esel. Die Trauer um das Tier überwog, zumindest bei Branko, dem es gehörte, aber bald auch bei Mutter, weil Branko groß war und sanfte Augen hatte.
„Besser woanders“, sagte er nur, und wir fuhren los.
„Besser woanders“, sagte er fortan unzählige Male, und immer stimmte es.
Mutter, die schön war wie nie, und ihr Haar offen trug, sagte diese beiden Worte nur einmal, sechs Wochen später, als wir Abschied nahmen. Sechs Wochen, in denen ich jagen, fischen und schweigen gelernt hatte, zum ersten Mal mit einem Mädchen schlief und fehlerfrei und in einer fremden Sprache das Lied vom Dalmatinischen Esel singen konnte, der angeblich Glück bringt.
Heute ist Mutter alt und blind, aber sie spürt es, wenn wir an einem Hochhaus vorbeikommen. Dann öffnet sie ihr weißes Haar und ihre Lippen formen tonlos zwei Worte. Ich summe dazu ein Lied, dessen Text ich nicht mehr kann.

© jess jochimsen. zuerst erschienen in: lift, stuttgart

zurück