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Laudatio auf Rainald Grebe
anlässlich der Verleihung des „Göttinger Elchs 2023“
am 16. April 2023 im Deutschen Theater zu Göttingen


Vielleicht beginne ich mit den Tellern. Nicht mit denen, die sich im Schrank oder in der Spüle stapeln, sondern mit den Tellern an der Wand. In Rainald Grebes Elternhaus in Frechen bei Köln. Nicht dass ich je dort gewesen wäre, aber ich habe Bilder gesehen. 2012. In seinem Bühnenprogramm „Das Rainald Grebe Konzert“ zeigte er seinem Publikum diese Teller, immer wieder, Dutzende Fotos von holzvertäfelten Wänden dekoriert mit Tellern. Es war so schonungslos und bizarr und spießig, diese Teller, so furchtbar, so furchtbar lustig. Das Publikum konnte minutenlang nicht aufhören zu lachen. Ich erinnere mich an die Fassungslosigkeit, die da im Theater herrschte. Und zwar bei allen. Irgendwie auch bei Rainald selbst. Das bin ich in diesen Bildern, schien sein Blick zu sagen, da komm ich doch her.

Und irgendwann fragte er dann ganz ernst: „Was mag wohl die Putzfrau über eine Familie gedacht haben, bei der Teller an der Wand hingen?“
In dem Satz war alles drin. Wie gut musste es einem wohl gehen?

Rainald Grebe. Ausnahmekünstler, Preisträger, seit heute mit einer Kerbe mehr im Klavierhocker. 1971 geboren. Vater Professor, Mutter Lehrerin. Protestantische Arbeitsethik. Den Rest entnehmen Sie bitte dem Internet.

Oder seinen Liedern: „Unsere Eltern ham uns mit Hanuta beworfen / unsere Nachbarn mit Nivea-Crème. / Es hat uns an nichts gefehlt, / aber genau das war das Problem. / Es ging uns allen gold.“ Eines seiner frühen Lieder, „Familie Gold“, die mit den Tellern an den Wand. „Mein Sohn, / zerreiß nie das goldene Band! / Wir sind das Herz von Westdeutschland.“
Wieder so ein Satz. In your Face, Bildungsbürgertum!

Kommt das Abgründige seiner Kunst etwa da her? Aus der Reihenhaussiedlung in Köln-Land? Wenn Grebe am Flügel sitzt und mit diesen weit aufgerissenen Augen ins Publikum starrt oder in die Leere. Dieses manchmal Wahnsinnige und dieses immer Traurige, Einsame? Wo kommt das her?

1990, nach dem Abi, schreibt Rainald Grebe, „wollte ich Theater und ich bekam es. Jeden Tag. Menschen Menschen. Vorhang auf. Ich war unverantwortlich. Ich war Zivi.“
Er leistet seinen Zivildienst in Bielefeld-Bethel. In der Gerontopsychiatrie. Geschlossene Abteilung. Gilead 4. In Bethel befindet die größte psychiatrische Klinik Deutschlands, das ganze Stadtviertel besteht aus ihr, „der Behindertenstadtteil“, wie man damals sagt, in dem nur Patienten und Pflegepersonal wohnen, und mitten unter ihnen Rainald Grebe. Er muss den Menschen dort lange und gut zugehört haben, den Kranken und Versehrten. In Bethel hat er den Betrübten beim Rauchen zugeschaut und den am Kopfe Kaputtgegangen bei ihren Reparaturversuchen – und: Er hat bereits damals für sie gesungen. Und mit ihnen.

„Ich wollte den Patienten etwas bieten“, erzählt er, „eine Weihnachtsfeier für die ganze Anstalt. Für die Allgemeine, für die Suchtabteilung. Für alle. Hat es das schon mal gegeben? Wenn da was nicht klappt, wenn einer durchtickt, is finito.“
Spoiler: Es klappte. Und wurde Richtschnur für seine spätere Kunst: „rübe, rübe, rübe, ich hab's an der rübe!“, singt er 20 Jahre später in seinem Lied „Gilead“, „rübe, rübe, rübe, ach, wenn sie mir nur bliebe.“ – „und als ich ging / da war ich guter dinge / ich vergess' euch nie, ich steig jetzt in mein boot / ich hab' gesagt, ich will immer für euch singen / mein katamaran steht vor der tür und der ist feuer-, feuerrot.“

Erscheint seine Kunst anders vor diesem Hintergrund? All die todtraurigen Miniaturen über Magersucht, Hammerwerfen und Männer ohne Gefühle? Sind die Lieder vom „wortkargen Wolfram“, vom „mittelmäßigen Manfred“ oder von „Doreen aus Mecklenburg“ nicht allesamt verrutschte Lebensskizzen? „Ich heiße Klaus / und ich seh auch nicht besser aus“. Name dropping von verlorenen Randexistenzen, die trotzallem weitermachen. Vielleicht ja nur, weil Rainald ihnen ein „ich“ schenkt.

Und das Publikum sitzt wie angeschossen da und weiß nicht, ob es kollektiv losflennen oder unter sich machen soll vor Lachen. Und sich meistens für Letzteres entscheidet, weil es weniger weh tut.
Außerdem singt der Mann ja nicht nur, er sagt auch Lieder an, und da kann man sich erholen. „Ich bin ein Wochenendseminar“, kann so eine Ansage lauten. Oder: „Vor tausend Jahren soll es sehr viele Mittelaltermärkte gegeben haben.“ Und dann schlägt er wieder einen Akkord an und zieht dir den Boden unter den Füßen weg. „Erster Januar / Sechs Uhr früh / Da liegt ein Kondom / im Fondue / War’n schönes Silvester.“

Als 1992/93 der „Quatsch Comedy Club“ in Hamburg startet, dürfen die Zuschauer:innen nach dem ersten Jahr ihren „Lieblingskomiker“ wählen. Sie entscheiden sich nicht für Michael Mittermeier, Rüdiger Hoffmann oder (Elchpreisträger) Olli Dittrich, die seinerzeit ebenfalls am Start sind, sondern für Rainald Grebe. Comedy ist damals völlig neu in Deutschland, ein Hype, und ein Erweckungserlebnis für alle, die genug haben von den politischen Gesinnungsvorträgen des herkömmlichen Kabaretts. Es herrscht Goldgräberstimmung. Alles ist erlaubt, nur lustig muss es sein. Eine Regel, wie für Rainald gemacht. Und er langt zu wie kaum ein anderer. Teilt gegen sendungsbewusste Links-Studentinnen genauso aus wie gegen rechte ZDF-Historiker. Dazwischen liegt ein Jahrzehnt allerbester Satire.

„Was ist eine gute Pointe, Herr Grebe?“ – „Wenn man mehrfach drüber lacht“.

Über „Guido Knopp“ lacht dank ihm das halbe Land. „Er wohnt im deutschen Fernsehen, / er wurde dort geboren. / In einer WG mit Adolf Hitler / und anderen Senioren. Knopp. Dr. Guido Knopp.“
Das Lied über besagte Studentin ist viel älter und tatsächlich sein erster Hit. „Dörte“, Dörte Becker, die im Schneidersitz zur Welt kommt und auf Andreas Baader onaniert. Jede Zeile ein Wirkungstreffer: „Sie studierte Germanistik / auf Lehramt in Berlin. / Hat die deutsche Sprache / so etwas verdient?“ Vor Kurzem hat Rainald Grebe in einem Interview gesagt, dass er ein so eindimensionales Bashing heute nicht mehr betreiben wollte, aber ... lustig war’s: „Dörte, du bist der Ausweg aus der Spaßgesellschaft.“

Vermutlich hätte Rainald Grebe in der Comedywelt schnell und steil Karriere machen können, aber er wusste: Man muss da rechtzeitig raus. Sonst wacht man in Mehrzweckhallen oder im Privatfernsehen auf – wenn es gut läuft.

Nächste Station: Berlin. Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Diplom im Fach „Puppenspiel“. Warum? „Ich glaube, weil die Speisekarte so vielfältig war“, erzählt er. Kein anderes Kunststudium hat so viele Fächer wie Puppenspiel.

Danach: Fünf Jahre Dramaturg und Schauspieler am Theaterhaus Jena. Seine erste und einzige Festanstellung. Und das nächste Erweckungserlebnis. Die Goldgräberstimmung herrscht jetzt im Osten und im Theater ist ebenfalls alles erlaubt. Ok, lustig ist es halt nicht, aber das lässt sich ja ändern. Und wie sie das geändert haben in der Zeit in Jena! Ich war selbst einmal da und habe es Rainald angesehen: Das Theater lässt den nie wieder los. Und der Osten interessanterweise auch nicht. „Thüringen, Thüringen / Das Land ohne Prominente.“ Jetzt hatte es einen.

2004 Rückkehr nach Berlin, „Halleluja Berlin, alle wollen dahin ...“.
In seinem Buch erzählt Rainald Grebe: „Zurück aus der Provinz, schrieb ich erstmal das Lied, das die Basis für meinen kometenhaften Aufstieg wurde: Brandenburg. Es steht meist in Klammern hinter meinem Namen: Rainald Grebe (Brandenburg), so wie Helene Fischer (Atemlos) oder Roberto Blanco (Ein bisschen Spaß muss sein) oder Angela Merkel (CDU), ich habe es zu einem Klammermenschen geschafft, den Rest entnehmen Sie bitte dem Internet.“

Wann und wo hat Rainald das denn geschrieben? Was für ein Buch überhaupt? Seine Autobiografie, 2021 erschienen beim wunderbaren Verlag Voland & Quist in Dresden / Berlin. „Rheinland Grapefruit. Mein Leben“ Ein sehr tolles, trauriges, lustiges Buch.
Aber wieso schreibt der jetzt bitte seine Autobiografie? Mit Ende 40?
Wieso nicht? Er hat sein Leben immer auch als Material betrachtet. Ansonsten dürfte es zu gleichen Teilen dem Pandemiebedingten Stillstand, seiner Krankheit und seinem Größenwahn geschuldet gewesen sein.

Ist ja nicht sein erstes Buch. Er hat ein Gesangsbuch mit seinen Liedern veröffentlicht und noch davor einen Roman – einen 400-Seiten-Wälzer, in dem die erzählte Zeit einen Tag umfasst und der Held „Bloom“ heißt. James Joyce als Fixstern. Kleiner ging’s nicht.

Stop. Spul noch mal kurz zurück. Du hast „Krankheit“ gesagt. Wie jetzt, krank?
Seit 2014 leidet Rainald Grebe an Vaskulitis, einer Autoimmunerkrankung, die bei ihm in unabsehbaren Abständen Schlaganfälle verursacht. 11 davon hatte er in den letzten Jahren schon. Den Rest entnehmen Sie bitte dem Internet.

Rainald Grebe. Liedermacher, Schauspieler, Komiker, Regisseur, Autor. Und Patient. „Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte er einmal, als ich ihn im Krankenhaus besuchte. Und hatte sich die Antwort längst schon selbst gegeben: Na was schon? Weiter. Und 2023 nochmal richtig, richtig groß. Waldbühne. Halleluja Berlin. Am 29. Juli. Mit allem Tam Tam.

Wenn ich an Rainald denke, fallen mir meine Kinder ein, wie sie vor 15 Jahren im Urlaub ständig seine Lieder gesungen haben. „Dreißigjährige Pärchen“ und „Single in Berlin“. Es wirft Fragen auf, wenn Achtjährige auf dem Campingplatz den ganzen Tag brüllen: „Sex ist total überwertet!“ Zur Erklärung reichten wir die CD rum. Irgendwann sang der halbe Platz mit. „Reich mir mal den Rettich rüber.“

Wenn ich an Rainald denke, denke ich immer auch an Franz. Und an Dietmar.
„Und Tutenchamun sprach: Niemand hat die Absicht, eine Pyramide zu bauen.“

Wenn ich an Rainald denke, fällt mir ein, wie ungern er immer „meinte“. Herr Grebe, was meinen Sie zum Krieg, bitte, Herr Grebe, Ihre Meinung zu Corona, Ihre Meinung zur politischen Lage?
Ich weiß es doch nicht. Was glauben Sie denn, wer ich bin?
„Ich bin der Präsident / In meinem Leben ist was los / Ich werde heute eine Fähre taufen / Und die Flasche ist so groß.“

Und jetzt auch noch Preisträger des Göttinger Elch 2023. Ja, ein Preis fürs Lebenswerk ist eine Zumutung. Aber schau mal, der Josef Hader war, als sie ihn zum Elch gemacht haben, noch jünger als du es jetzt bist. Du bist hier in bester Gesellschaft. Vertrau mir. Das sind die Guten.

„Manchmal, da fliege ich in meinem Heli / Und dann schaue ich runter und denke: "Gutes Getreide" / Und dann freu ich mich so, dass die Jugend wieder forscht.“

In seiner Autobiografie schreibt Rainald auch ein Tagebuch seiner Krankheit. Und die Geschichte endet damit, wie er in der Reha für die anderen Patienten singt. So wie damals in Bethel. Mit dem Unterschied, dass er jetzt einer von ihnen ist. „Es gibt Länder, wo was los ist / Es gibt Länder, wo richtig was los ist. / Und es gibt ...“

Meine Damen und Herren, falls Sie Rainald Grebes Werk noch nicht so gut kennen, holen Sie es nach. Damit Sie vorbereit sind. Weil: Da kommt noch was. Den Rest entnehmen sie bitte dem Internet.

„Fete, geile Fete / Was haben wir gelacht / So feiert das alte Europa / und sagt: Gute Nacht.“

Wir haben den schönsten Beruf der Welt, Raini, ich küsse dich.
Danke für die Aufmerksamkeit.


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