corona letters – ungeschriebene Briefe der letzten Zeit

Vorläufige Erkenntnis: Meine Eltern sollen es einmal besser haben als ich.

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Die Grenzen geschlossen, die Kontakte eingeschränkt und uns fällt wirklich nichts besseres ein, als 80.000 Erntehelfer aus Osteuropa einfliegen zu lassen? Während wir gleichzeitig um die Aufnahme von 50 Flüchtlingskindern schachern?
Kann Spuren von Moral enthalten, aber: Wir reden jetzt nicht über die Systemrelevanz von Luxus-Gemüse, oder?

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Frag’ besser nicht, Du Liebe.
Die erste Zeit war ich ausschließlich mit mir selbst beschäftigt; Absagen verdauen und viel rechnen und Anträge stellen und die laufenden Kosten immer weiter runter und nochmal rechnen und irgendwann die vorsichtige Entwarnung: Eine Weile halte ich durch. Nicht lang. Aber länger als gedacht.
Nur, was hilft es, die eine Angst zumindest vorläufig zum Schweigen zu bringen, wenn die andere dafür umso lauter wird? „Diesmal wackelt deine kleine Bühne wirklich“, sagt die Angst, „diesmal kommst du nicht so leicht durch, mit deiner Behauptung von Kunst, von Leben.“
Hat die Angst nicht genau das immer schon gesagt? „Irgendwann fliegt der ganze Schwindel auf, mein Freund, und was machst du dann?“

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37 Nobelpreise gingen bislang an die „Johns Hopkins Universität“. Und ich stolpere allabendlich über das „s“ in „Johns“. Muss es nicht „John“ heißen?
Was für eine vermessene Frage. Als wüssten die das nicht. (Das Lehrerkind in dir muss Heimat finden.)

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Dass ich diesen Satz je sagen würde: „Nein, Mutter, ich besuche dich nicht, ich könnte dich umbringen!“
Gedacht habe ich das oft, aber gesagt?

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Ich soll eine Antwort geben: Was ich über den kometenhaften Aufstieg des Markus Söder denke?
Dass er noch Anfang letzten Jahres versucht hat, die AFD rechts zu überholen, um Wählerstimmen zu gewinnen. Das denke ich.
Bis ihm aufgegangen ist, dass das ein Schmarrn war, weil nicht die AFD, sondern die GRÜNEN das Thema gewesen sind, und er deswegen schleunigst seine rassistischen Sprüche vom „Asyltourismus“ gelassen hat, um stattdessen lieber medienwirksam Bienen zu retten und Bäume zu umarmen. Das denke ich auch.
Und dann schaue ich genauer auf die „Wählerwanderungen“ der CSU und stelle fest: Sowohl bei der letzten Landtags- als auch bei der letzten Bundestagswahl hat die CSU die meisten Stimmen gar nicht an die AFD abgegeben. Und auch nicht an die GRÜNEN. Tatsächlich hat die CSU die meisten Wähler an Tod und Altersschwäche verloren.
Und vor diesem Hintergrund erscheint die rigide Corona-Politik von Markus Söder ...
Meine Gedanken möchte ich manchmal nicht haben.

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Menschenskinder, wir wussten das doch alles vorher schon! Das mit den Schlachthöfen und den Heimen und der fehlenden Gleichberechtigung und der ungerechten Lohnpolitik und der Digitalisierung und den Schulen ...
(Und wenn mir jetzt noch einmal ein Lehrer von dem großen Leid klagt, das ihm die böse Pandemie zugefügt hat, dann erinnere ich ihn so lange und laut an volle Bezüge und Beamtenstatus, bis er gerne in die Computerschulung geht.
Ja, auch in den Sommerferien, Gott im Himmel!)

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„Die Kirchen sollten leer sein, weil keiner hingeht, und nicht, weil keiner reindarf.“ (Friedrich Küppersbusch)

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Lieber, schickt dir B. auch ständig so Verschwörungsmist? Wie gehst du damit um, wenn Freunde und Bekannte auf einmal von „Diktatur“ reden? Wenn sie den Grippe-Vergleich auspacken und Ken Jebsen nicht verkehrt finden? Dieses Kaltherzige daran, dieses himmelschreiend Doofe ...
Sag’ nichts. Ich sehe dich förmlich vor mir, wie du lächelnd die Schultern zuckst: „Freunde kann man sich aussuchen.“ Und: „Sei ehrlich, bei B. wussten wir in der 10. Klasse doch schon, dass er seine Welt lieber einfach und flach hätte – und von Echsenmenschen besiedelt.“
Deine Gelassenheit fehlt mir so.

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Ende Mai bin ich das erste Mal wieder live aufgetreten. In der schwäbischen Provinz. Vor Autos!
Letztes Jahr noch Fridays-for-Future und jetzt das! Hätte ich doch das Geld nicht so verdammt nötig ... (Erinnerst du dich daran, wie schlimm wir Autokinos schon in den 80ern fanden?)
Das Schlimmste daran war, dass ich das konnte, dass ich gut und das Publikum begeistert war.
Die traurige Wahrheit aber ist: Ich stand auf einem Parkplatz und habe Autos Witze erzählt. (Und wenn einer ankam, wurde gehupt.)

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Mir war nicht klar, wie sehr ich die Menschen vermisse.
Vielleicht telefoniere ich deswegen so viel? Zum Teil mit Leuten, von denen ich vergessen habe, dass sie mir wichtig sind. Zum Glück bevorzugen die meisten, so wie ich,  Telefonate ohne Bild (so sieht niemand, wie ich fast jedes Mal heulen muss dabei).
Mit S. rede ich regelmäßig und ausführlich. Seit ihrer Diagnose. Kriege ich hin.

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Was ich nachhaltig nicht hinkriege ist: Schreiben.
Eine Roman-Idee, die tragen könnte, habe ich endlich. Aber die Kraft fehlt. Und der Mut auch. Der Branche geht es beschissen; ein frühzeitiges Abwinken vom Verlag (aus welchen Gründen auch immer) stehe ich im Moment nicht durch.

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Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Ich könnte die Sorge um meinen Vater ins Feld führen, der – eingemümmelt in seine Demenz – im Pflegeheim sitzt und nach wie vor nicht besucht werden darf.
Aber in Wirklichkeit hatte ich Angst vor dem Gejammere, in das ich andauernd verfalle. Angst vor der Anstrengung, permanent so zu tun, als sei schon alles ok bei mir.
Und dann natürlich der Neid. Auf die Kollegen mit den TV-Auftritten. Auf die, die durch die Krise getragen werden. Auf dich.

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Kannst du mir all die Rechtsdreher erklären? Und ich meine damit nicht die Sänger und Köche unter ihnen, sondern unsere Leute, die, die dem Wort verpflichtet sind.
Ist das komisch, auf die Bildschirmbühne zu steigen, um „wohl noch mal fragen zu dürfen“, ob „die Kanzlerin vielleicht einem Virologen hörig“ sei? Oder „warum die >Greta< jetzt auf einmal nichts mehr sage“?
Um was geht es da? Lieber falsch verstanden zu werden als gar nicht gehört?
Dieses Geraune immerzu.

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Ich verschiebe meinen Geburtstag aufs nächste Jahr.

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Immer wieder verlese ich mich beim Wort „Abstand“; lese „Anstand“ stattdessen. „Anstandsregeln“ oder „Anstand halten!“
Ich verzeihe mir diesen Fauxpas gern.

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Dir kann ich ja sagen, wie entsetzlich mir Umarmungen fehlen.
Auf das piefige Händeschütteln kann ich gut verzichten, aber nicht mehr in den Arm zu nehmen oder genommen zu werden. Wie soll das gehen?

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Manchmal lasse ich den ganzen Tag die Gardinen zugezogen. Damit ich die Jogger nicht sehen muss.
Wer jeden Tag eine Stunde läuft, lebt zwei Jahre länger.
Verbringt aber vier Jahre mit Laufen.

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Du – sollen wir mal länger sprechen die Tage? Einfach so. Wegen der Sehnsucht.
Und dann bitte bald sehen. In echt. Wenn es möglich ist. Es wird.
Ich umarme dich, mein Lieber, fest und von Herzen.


© 2020. zuerst veröffentlicht in: FABRIK-Rundbrief No. 68 sowie Frankfurter Rundschau, 18./19.7.2020 / Faksimile