Leseprobe, BELLBOY, Kap. 18: Zombies

Rückblickend würde ich sagen, meine Verwandtschaft war guter Durchschnitt. Drei Scheidungen, zwei Selbstmorde, der ein oder andere Problemfall und ein Haufen Trinker. Wie alle anderen Familien in der Gegend. Provinz eben. Tiefste Provinz: Clans, die seit Jahrzehnten hier wohnen, arbeiten, sich fortpflanzen, Kinder durch Autounfälle verlieren, Felder in Baugrund umwandeln, auf dem die überlebenden Kinder Häuser errichten, in denen sie dann wohnen, sich vermehren und so weiter. Kaum einer zieht weg, Platz ist ja da, für immer mehr Menschen, die alle das Gleiche tun.
»Aber irgendwann«, sagte Frau Hofer, die Apothekerin, einmal, als sie betrunken war, »irgendwann hast du mit allen gevögelt, und bei dem, mit dem es am wenigsten schlimm war, bleibste.«
Die eigene Familie allerdings bekam man in ihrer Gänze gar nicht mit. Ich wusste, dass es sie gab, dass sie in den umliegenden Dörfern lebte, die schon längst keine mehr waren, sondern Ansammlungen von Doppelhaushälften, die sich jeweils um einen Supermarkt gruppieren.
Zum Leben erweckt wurde die Familie nur an Festen. Hochzeiten, Taufen, Konfirmation, Weihnachten, runde Geburtstage. Nie kamen alle, weil immer irgendwer mit irgendwem zerstritten war, aber nach ein paar Jahren hatte ich einen ganz guten Überblick. Einzig zu den Beerdigungen erschienen alle. Der Tod war das einende Moment der Sippschaft. Wenn eine der älteren Frauen starb, hatte man manchmal den Eindruck, sie tat es, um die Familie mal wieder zusammenzubringen. Gesittet, im Sonntagsstaat, mit der nötigen Würde. Wie es sich für anständige Leute gehörte.
Alle waren gekämmt, immer dem festlichen Anlass angemessen, eine Familie im Ausnahmezustand. Die Verhältnisse untereinander, die Hierarchien waren klar festgelegt durch die Sitzordnungen an den verschiedenen Tafeln. Die Großeltern und deren Geschwister saßen am Mitteltisch. Daneben die Erstgeborenen samt Anhang. Dann die Familien der weiteren Brüder und Schwestern und so fort. Ganz außen saßen die Kinder und die Ausgestoßenen, also die, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten, in psychiatrischer Behandlung oder frisch geschieden waren. So wurde uns Kindern nie langweilig.
Der König der Ausgestoßenen war Onkel Heinz. Er erzählte uns bei jeder Familienzusammenkunft, dass seine frühere Frau, Tante Berta, ein Zombie gewesen sei. Wahlweise auch ein Vampir oder ein Werwolf. Er erzählte von grausigen Veitstänzen der Untoten, von Verwandlungen um Mitternacht, von bestialischen Orgien im Blutrausch. Dietsche, Paul und ich liebten diese Geschichten. Weil Onkel Heinz nur zu Beerdigungen eingeladen wurde, freuten wir uns immer, wenn jemand starb. Wir saßen am Katzentisch, mampften Wurstbrote und lauschten Onkel Heinz. Der erzählte von Mutationen bei Vollmond, von dichter, schwarzer Behaarung, die Tante Berta immer bekommen hätte, »auch im Gesicht«. Erzählte von dritten und vierten Brüsten, die sich aus dem weichen Körper nach außen stülpten, von Fingernägeln, die zu Krallen wurden, und von ewiger Verdammnis.
»Tagsüber ist niemanden was aufgefallen, sogar in die Kirche ist sie gegangen, die Berta«, erzählte Onkel Heinz, »keiner hat was gemerkt. War ja hell. Nachmittags saß sie dann mit ihren Freundinnen zusammen, schön Likörchen trinken, alles ganz unauffällig. Aber nachts, oh Gott, da ging es los. Ein Geheule und Gekreische nach frischem Blut. Berta wurde zum Monster, und ihre Freundinnen auch, alle, es war furchtbar. Und wenn sie einen erwischt haben, saugten sie ihn aus. Der war dann auch so wie sie, sein Leben lang, ohne Hoffnung.«
Keiner von uns hatte Tante Berta je kennen gelernt, zumindest nicht bewusst. Sie war damals schon gut zehn Jahre tot, ich habe keine Erinnerung an sie. Sie war in den späten Sechzigern vom Dach gesprungen und beim Aufprall vom Pflock eines Weidezauns durchbohrt worden.
»Das war die einzige Möglichkeit«, erklärte uns Onkel Heinz.
Für die Familie war es der erste Selbstmord in der Verwandtschaft. In ihrem Abschiedsbrief hatte Tante Berta geschrieben: »Mein lieber Heinz, es ist noch Suppe in der Truhe. Du brauchst sie nur aufzutauen.« Nach dieser Geschichte war klar, dass Onkel Heinz bei keiner einzigen Feier auch nur einen Tisch würde aufrücken können. Außerdem war er tätowiert. Ein selbst gestochenes, schiefes Kreuz zierte seinen Unterarm.
»Deswegen ist sie nie auf mich losgegangen«, erklärte er uns.
»Kannst du mir auch so ein Kreuz machen?«, fragte Dietsche ihn einmal.
»Wieso das denn?«
»Wegen Mutter. Sie ist in letzter Zeit so komisch.«
»Mit so etwas soll man nicht spaßen«, sagte Onkel Heinz, »außerdem glaube ich nicht, dass Berta deine Mutter jemals gebissen hätte, nee, das wüsste ich.«
»Onkel Heinz«, fragte Dietsche, »stimmt es, dass Untote ganz wabbelig sind, fast durchlässig, und dass sie Blutwurst mögen.«
»Richtig, mein Junge.«
»Dann guck doch mal, Onkel Heinz«, sagte Dietsche und deutete verstohlen über seine Schulter. Drei Tische weiter saß Tante Erika, Dietsches und Pauls Mutter. Mit beiden Händen schob sie sich gerade ein großes Stück Blutwurst in den Mund. Die Arme standen dabei fast in einem Neunzig-Grad-Winkel vom Körper ab, riesige, bleiche Arme, die wie überdimensionale Tentakel aus ihrem Kleid quollen. Ihr Blick war glasig und stur auf das Opfer gerichtet, sie biss von der Blutwurst ab, kaute genüsslich, und beim Schlucken schloss sie ihre Augen. Ein feines rotes Rinnsal lief ihr übers Kinn, tropfte, der Schwerkraft folgend, nach unten und wurde von ihrem ausladenden, überbordenden Busen aufgefangen. Ich dachte an dritte und vierte Brüste, die Berta wuchsen, wenn sie mutierte, dafür wäre bei Tante Erika beim besten Willen kein Platz gewesen. Aber wissen konnte man nie.
»Nee, nee«, sagte Onkel Heinz und trank bestimmt seinen fünften Schnaps, »so einfach ist das nicht. Außerdem gibt es immer Ausnahmen. Adolf Hitler zum Beispiel.«
»Hitler war ein Zombie?«
»Was heißt da war? Noch einen Klaren, Meister!« Onkel Heinz trank den Schnaps jetzt aus dem Wasserglas. »Ich habe nie an Hitlers Selbstmord geglaubt. Zu einfach. Untote sind gerissen, wisst ihr. Die Nazis -- alle Zombies gewesen, anders ist das doch gar nicht zu erklären. Eine Nation im Blutrausch, dass ich nicht lache, Vampire war'n das! Wollt ihr auch einen Klaren, Jungs? Egal. Guckt mal hier«, er zeigte auf das Kreuz auf seinem Unterarm, »was seht ihr? Na, fällt euch was auf?«
»Ein Kreuz, Onkel Heinz«, sagte Paul.
»Und?«
»Was und?«
»Schaut mal.« Onkel Heinz trank noch einen Schluck, dann nahm er die Serviette vom Tisch und malte mit einem Kugelschreiber ein Hakenkreuz darauf.
»Alle Striche gleich lang, das kannste drehen und wenden, wie du willst, du kannst sogar die Haken ausklappen, seht ihr, gleich lang. Und hier«, er deutete wieder auf seinen Unterarm, »das Christenkreuz. Die Längsstrebe lang, die Querstrebe kurz, und schief muss es sein, davor haben sie Angst. Das Hakenkreuz kann ihnen nichts anhaben, deswegen haben sie's ja auch überall draufgepinselt, damit keiner auf die Idee kommt.« Onkel Heinz brüllte jetzt. »Zombies waren das allesamt. Schmeckt die Blutwurst, Erika?«
Tante Erika verschluckte sich und bekam einen Hustenanfall. Onkel Heinz goss sich einen weiteren Klaren ein.
»Und wisst ihr, was das Perverseste ist?« Er rückte ganz nah an uns heran, so dass wir seine Fahne riechen konnten. »Das Perverseste: Hitler war Vegetarier. Die perfekte Tarnung, Vegetarier. Vergesst das nie. Trotzdem war er ein Werwolf. Anders ist das alles gar nicht zu erklären. Alle Vegetarier sind Zombies. Und Berta«, jetzt schrie er wieder, »die Berta ist da nicht schuldlos dran.«
Wir hielten den Atem an.
»Die Berta und der Hitler ... Es wäre alles anders gekommen, wenn die Berta den Hitler damals ... Alles ...« Onkel Heinz verdrehte die Augen. »Zombies.«
Dann sackte er in sich zusammen, und mein Vater und zwei andere trugen ihn raus. Dietsche, Paul und ich sahen uns die verbliebenen Teilnehmer des Leichenschmauses an. Man aß, trank und unterhielt sich munter weiter. Die Familie war wohlauf. Es würde eine Weile dauern, bis wieder eine Beerdigung anstünde und Onkel Heinz das Geheimnis von Tante Berta und dem Führer würde lüften können.
Die nächste Beerdigung war die von Onkel Heinz, und zum ersten Mal waren wir Kinder wirklich traurig. Für die Familie war es der zweite und vorerst letzte Selbstmord in der Verwandtschaft.

© dtv 2005

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