St. Martin auf Umwegen

Mein Sohn Tom bringt immer wieder sprachlichen Unrat von der Schule mit nach Hause. Das reicht von Schimpfwörtern über schmutzige Reime bis hin zu völlig unverständlichen Slangausdrücken. Erstere werden von mir geahndet, letztere lassen mich fassungslos zurück. Kleine Kostprobe gefällig?
Tom sagt Dinge wie "Pubsbacke" oder "Windelgesicht". Ich verbiete ihm das. Tom sagt, dass in der Schule alle so reden würden. Ich sage, dass das kein Grund sei und was denn seine Lehrerin dazu meine. Tom sagt: "Ach die, die ist doch total Moped!" Ich bin fassungslos.
Wenn Tom besonders witzig sein will sagt er: "Papa, sag mal Klettergerüst."
Ich: "Klettergerüst."
Er: "Du hast 'ne nackte Frau geküsst."
Dann lacht er sich kaputt. Worauf ich sage, dass nackte Frauen küssen toll ist, besonders, wenn es sich um seine Mutter handele. Tom sagt "Argh!" Ich frage, ob die Mama auch "total Moped" wäre. Tom: "Die doch nicht, die ist schlock." Verstehe das, wer will.

Letzte Woche hat Tom nun ein schlimmes Lied von der Schule mit nach Hause gebracht: eine unflätige Verballhornung des St. Martinsliedes.
Bevor sich jemand aufregt... ich kann da nichts dafür. Kinder sind so oder die Schule oder weiß der Geier. Von mir hat er das jedenfalls nicht.
Aber ich muss zugeben, dass ich das Verhohnepiepeln gerade von Liedern oder Gedichten spannend finde, denn sie entstehen wie aus dem Nichts, sie sind einfach irgendwann da, keine Ahnung, wer sich die ausdenkt.
Ein Beispiel: Vor drei Jahren um diese Zeit sollte Tom im Kindergarten "Leise rieselt der Schnee" singen. Natürlich sang er: "Leise rieselt die Vier / auf das Zeugnispapier / hör nur wie lieblich es schallt / wenn Papas Ohrfeige knallt!"
Unfaßbar! Tom war im Kindergarten! Er hatte keine Ahnung, was ein "Zeugnis" überhaupt sein könnte, geschweige denn, dass er je eine Ohrfeige... ich bitte Sie! Aber das Lied war da, das habe ich als Kind sogar schon gesungen.

Wahrscheinlich sind die Verballhornungen so alt wie die Originale selbst, die Frage lautet demnach: Wer bringt sie den Kindern immer wieder bei (wenn ich es nicht bin)?
Und das Fatale daran: man behält die Umdichtungen besser im Gedächtnis. Denken Sie nur an Schillers "Bürgschaft", "Zu Dionys dem Tyrann schlich / Damon, den Dolch im Gewande..." Noch heute kommt mir als erstes der legendäre Reim in den Kopf: "Was willst du mit dem Dolche sprich / Kartoffeln schälen, stör mich nicht."
Hab ich als Kind von der Schule mit nach Hause gebracht und mein Vater kannte es noch aus seiner Kindheit in den 50er Jahren. Wo kommt das her?
Ich habe mal im Lexikon nachgeschlagen. Also: Schillergedichte, aber auch Volkslieder, gehören zur "Hochkultur" und genießen von daher "Deutungshoheit", also "Macht". Man muss sie auswendig lernen. So. Darauf reagieren die "Beherrschten", also die Kinder, durch "Umdeutungen niederkultureller Art". Soweit die Wissenschaft. "Verballhornungen sind also Machtkritik." Toll, nicht?

Wobei das jetzt alles keine Entschuldigung sein soll, für das schlimme St. Martinslied, das Tom aus der Schule mitgebracht hat. Es muss neueren Datums sein, ich zumindest kannte den Text noch nicht. Festhalten und los geht's:
"Sankt Martin, Sa-hankt Martin, Sankt Martin ritt durch Pommes und Salat / sein Ross blieb steh'n vor'm Cola-Automat. / Sankt Martin warf die Münze ein / und trank die Cola wie ein Schwein."
Es tut mir wirklich schrecklich leid, aber Tom und seine Freunde haben das so gesungen. Und sie können Dutzende Strophen:
"Im Schnee - da, im Schnee - da, im Schnee - da saß ein reicher Mann, / hat Kleider an wie Supermann." Es ist ja wohl die Höhe! "O, hilf mir doch in meiner Not / und schmier mir ein Nutel-la-brot." ENTSCHULDIGUNG!
Bei aller gebotenen Machtkritik: Das will ich beim Martinsumzug dann doch nicht hören! Also habe ich die Nutella weggesperrt und mit Tom und den Jungs Hochkultur gepaukt, weil die nämlich "schlocker" wäre:
"Ich geh mit meiner Laterne / und meine Laterne mit mir." Das ist in sich schlüssig. Das kann keiner verballhornen.
Tom: "Der Umzug ist doch total Moped!"
Ich: "Nein, mein Sohn, der ist Rabimmel Rabammel Rabumm!"

© 2008 jess jochimsen. zuerst erschienen in: spielen & lernen

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